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Aufstieg in 1. Liga der französischen Schriftsteller

International bekannt geworden ist der Franzose Philippe Claudel durch seinen Roman "Die grauen Seelen". Sein Interesse gilt vor allem den dunklen Seiten des Menschen, wie sie in kriegerischen Zeiten hervor treten: auch in seinem Roman "Brodecks Bericht", mit dem er seine Kriegs-Trilogie abschließt.

Von Christoph Vormweg | 08.12.2009
    Ein französischer Schriftsteller, der von Deutschland fasziniert ist: seit Guillaume Apollinaire, Jean Giraudoux und Michel Tournier ist das eine Seltenheit. Vor allem die unheimlichen, düsteren Seiten sind es, die Philippe Claudel in den Bann ziehen: sei es in der germanischen Mythologie, den deutschen Märchen oder der Geschichte der Weltkriege. So spielt "Brodecks Bericht", der Schlussroman seiner Kriegstrilogie, dem ersten Eindruck zufolge kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einem abgelegenen französischen Dorf. Doch der Schein trügt. Die vermeintlichen Deutschen, die das Dorf während des Kriegs besetzt hatten, heißen "Fratergekeime". Mit anderen Worten: Philippe Claudel jongliert nicht mit historischen Fakten. Vielmehr besinnt sich der 1962 geborene Lothringer auf die gute alte Parabel.

    "Ich wollte eine Art vorgetäuschten historischen Roman schreiben und das Parabelhafte noch weiter treiben als in meinem Roman 'Die grauen Seelen'. In 'Brodecks Bericht' sind Ort und Zeitbezug noch mehr verwischt, um eine Art schwarzes Märchen zu erzählen. Ich wollte dem Leser klar machen, dass ich keine bestimmten historischen Ereignisse beschreibe, sondern - im Gegenteil - die Gefühlswallungen, die Menschen in Bewegung setzen, Gruppen, Massen: mit so schrecklichen Versuchungen wie dem Genozid und der Verdammung anderer zu Sündenböcken. Das hat es leider überall und zu allen Zeiten gegeben. Darauf wollte ich den Leser aufmerksam machen, um ihn zu destabilisieren: damit er sich fragt, wo er sich selbst befindet, damit er sieht, dass die menschliche Natur unveränderlich ist."

    Parabeln - wir haben es alle in der Schule gelernt - sind "lehrhafte Dichtungen, die eine allgemeingültige sittliche Wahrheit an einem Beispiel veranschaulichen". Den Lehrmeister kehrt Philippe Claudel in "Brodecks Bericht" allerdings nicht heraus. Vielmehr seziert sein Roman in aller Widersprüchlichkeit die Enthemmungen, die Kriege provozieren, inklusive der verstörenden Langzeitwirkungen bei den Opfern. Das veranschaulichende Beispiel ist ein kollektiver Mordes in dem 400-Seelen-Dorf, wo Brodeck mit Frau, Kind und Adoptivmutter lebt. Ein Fremder, genannt "der andere", der sich im Gasthof vor Monaten eingenistet hat, ohne seinen Namen preiszugeben, ist umgebracht worden. Und ausgerechnet Brodeck, der bei der Tat gar nicht zugegen war, soll auf Geheiß der Dorfoberen einen Bericht über Hergang und Motive verfassen. Denn nur er besitzt eine Schreibmaschine und Schreiberfahrung. Brodeck soll - für den Fall einer Anklage von auswärts - die Schuld auf das Opfer abwälzen, weil es die Dorfgemeinschaft über alle Maßen provoziert habe.

    "Ich mag eingezwängte Gemeinschaften. Für Romane sind sie äußerst interessant: wegen der erstickenden Wirkung einer nahezu geschlossenen Gesellschaft. Da fühle ich mich ein wenig wie ein Insektenforscher mit seiner Lupe, der mit aller Genauigkeit einen Ameisenhaufen beobachtet und versucht, ihn zu beschreiben."

    Brodeck fühlt sich von der ersten Seite an in der Zwickmühle. Denn er ist - wie der Ermordete - eigentlich ein Dorffremder, aufgenommen vor mehr als dreißig Jahren, am Ende des vorletzten großen Krieges, als er seine Eltern verlor und von seiner Adoptivmutter hierher gebracht wurde. Er befürchtet, wenn er nicht gehorcht und schreibt, was der Bürgermeister will, das nächste Opfer zu sein. Um sich Klarheit über seine Lage zu verschaffen, beginnt er neben dem offiziellen Bericht einen zweiten, geheimen Text. Doch der Versuch der Selbstvergewisserung fällt schwer. Denn Brodeck hat viel hinter sich. Während des letzten Krieges wurde er deportiert und in einem Konzentrationslager zu einem willenlosen, kriechenden Nichts degradiert: zum "Hund Brodeck".

    "Ich hoffe, dass sich der Leser nicht darauf verlässt, was ihm Brodeck erzählt. Denn dieser Roman kann auf verschiedene Arten gelesen werden. Eine davon drängt die Frage auf, ob dieser Mann verrückt ist. Hat er nicht dermaßen gelitten, dass er den festen Boden des Rationalen verlassen hat? Leidet er nicht unter einer geistigen Störung, die ihn überall Feinde sehen lässt? Ist "der andere" vielleicht nur ein eingebildeter Doppelgänger, der gar nicht existiert? Der Roman spielt mit Wahrheit, Lüge und Illusion. Er ist ein - im literarischen Sinne des Wortes - fantastischer Roman. Das heißt: Man weiß nicht recht, was der Wirklichkeit entspricht und was nicht."

    "Brodecks Bericht" ist also buchstäblich eine Kopfgeburt. Nicht einmal die Leiche "des anderen" bekommt er zu Gesicht. Je unsicherer er wird, desto mehr steigt die Spannung. Mehr noch, im Fluten der Erinnerungsbilder und der Gespräche mit Dorfbewohnern wie dem ständig betrunkenen Pfarrer setzt sich Brodecks Vorgeschichte zusammen. Sie ist ein Mosaik aus Momenten menschlicher Grausamkeit: angefangen mit dem Einmarsch der Besatzer und der Denunziation Brodecks als beschnittener Fremder bis hin zum KZ-Alltag, wenn die Frau des Lagerkommandanten, die sogenannte "Seelen-fresserin", an jedem Morgen bei der obligatorischen, durch Spielentscheid bestimmten Hinrichtung mit ihrem Baby auf dem Arm erschien. Der Krieg öffnet schonungslos den Blick auf die Bestie Mensch. Die Anspielungen Philippe Claudels auf die französische Kollaboration mit Nazi-Deutschland sind dabei offensichtlich.

    "Frankreich hat immer noch nicht erschöpfend Selbstkritik geübt hinsichtlich des Vichy-Regimes, auch nicht hinsichtlich des Algerien-Krieges oder des Indochina-Krieges. Auch deshalb habe ich diese Romane geschrieben. Denn sie befragen unsere Nationalgeschichte auf parabelhafte Weise."

    "Brodecks Bericht" konfrontiert den Leser indirekt mehr als einmal mit den düsteren Kapiteln der deutsch-französischen Geschichte. Aber eben nur indirekt, nur andeutungsweise. Als Nachgeborener, Jahrgang 1962, spielt Philippe Claudel äußerst gewieft mit dem Déjà-vu. In fiktiven, ganz konkret erzählten Szenen verfremdet er das Allzu-Bekannte unserer immer wiederholten Geschichtslektionen. Damit unterläuft er die in jedem Hirn eingeübten Distanzierungsrituale. Mit anderen Worten: Besser als Philippe Claudel kann man die nachgeborenen Leser nicht verunsichern und zweifelnd auf sich selbst zurückwerfen - zumal wenn die Prosa literarisch überzeugt: mit einem eigenständigen, ganz auf Brodeck zugeschnittenen Ton, mit einem spannend konstruierten, doppelbödigen Roman voller gelungener Porträts und gekonnt eingefügter Rückblenden. So unscheinbar Philippe Claudels Prosa auf den ersten Blick erscheint: sie verdichtet gekonnt und ohne Larmoyanz die Stimmungen des Bedrohlichen, das Wachsen der Ängste. Nicht zuletzt das Spiel mit den literarischen Genres gelingt ihm.

    "Bei einem Buch wie "Brodecks Bericht" interessiert mich, dass es sich zwischen verschiedenen literarischen Genres bewegt. So hat mich - genauso wie bei meinem Roman "Die grauen Seelen" - gereizt, dass er wie ein Krimi erscheint, aber gar keiner ist. Denn alles ist von vornherein klar: Es hat einen Mord gegeben, die Schuldigen stehen fest, also gibt es eigentlich nichts zu entdecken. Und doch wird es spannend. Denn ich werfe wie beim Fischen Köder aus, um den Leser zu locken und nicht mehr loszulassen. Dabei erfährt er weniger über die Ermittlungen als über die menschliche Natur, über eine Art metaphysischer Analyse der verschiedenen Situationen. Es geht also darum, die Strukturen des Kriminalromans zu nutzen, um einen philosophischen Roman zu schreiben, der versucht, grundlegende Reflexionen über den Menschen und die Menschheit zu eröffnen."

    Mit " Brodecks Bericht " hat sich Philippe Claudel endgültig in der 1. Liga der französischen Schriftsteller etabliert. Der 47-Jährige vermittelt, was historische Dokumente meist nur erahnen lassen: differenzierte Einblicke in die "graue Seele" der Menschen, in die Unmöglichkeit, in extremen Zeiten unschuldig zu bleiben. Und das betrifft - wie der Roman am Ende zeigt - auch Opfer wie Brodeck.

    Philippe Claudel: Brodecks Bericht. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Kindler im Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 335 Seiten. 19,90 Euro.