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Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels

Nachdem Hitler 1933 in die Reichskanzlei einzog, kam es in der Wilhelmstraße, ehemals Regierungszentrum der Reichshauptstadt Berlin, innerhalb nur eines Jahres zu einem Umbau von Demokratie zur Diktatur, erklärt Claudia Steur, Kuratorin der Ausstellung "Die Wilhelmstraße 1933 bis 1945 – Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels" der Stiftung "Topographie des Terrors".

Claudia Steur im Gespräch mit Dina Netz | 19.06.2012
    Dina Netz: Die Berliner Wilhelmstraße liegt auch heute wieder im Regierungsviertel. Dort sitzen zum Beispiel das Finanzministerium, die Tschechische Botschaft oder das ARD-Hauptstadtstudio. Trotzdem ist die Wilhelmstraße heute eine unter vielen in Berlins Zentrum, und nur die wenigsten wissen wohl um ihre Geschichte. Die Wilhelmstraße, benannt nach König Wilhelm I., war nämlich einmal das Regierungszentrum der Reichshauptstadt Berlin – so wie man heute "Downing Street" für die britische Regierung sagt, stand "Wilhelmstraße" damals für die deutsche.

    Und ihre "Eroberung" war das erklärte Ziel Hitlers, als er am 30. Januar 1933 mit Fackelzug in die Reichskanzlei einzog. In kurzer Zeit wandelten die Nationalsozialisten die Wilhelmstraße in ihr Machtzentrum um, und an diese Zeit erinnert jetzt eine Ausstellung der Stiftung "Topographie des Terrors": "Die Wilhelmstraße 1933 bis 1945 – Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels" heißt sie. Ich habe die Kuratorin der Ausstellung, Claudia Steur, gebeten zu erklären, wie die Wilhelmstraße zur Nazi-Zeit aussah.

    Claudia Steur: Während der NS-Zeit befand sich jedes Ministerium dort, also nahezu alle Behörden, und es sind alte, überwiegenden Teils alte schöne Adels-Palais gewesen, die ursprünglich natürlich dann von Adeligen bewohnt wurden und später vom Staat aufgekauft wurden und zu Ministerien umgewandelt wurden. Manche wurden aufgestockt, und als 1945 das meiste in Trümmern lag, da standen – im Grunde haben es überdauert die nationalsozialistischen Neubauten, nämlich das Reichsluftfahrtministerium, das heutige Finanzministerium und ein Teil des Propagandaministeriums, die Seitenflügel, die 37/38 errichtet worden sind.

    Und ansonsten sind es eigentlich heute nur noch zwei der traditionellen Häuser, die man dort sehen kann: Das eine befindet sich direkt an der Ecke Unter den Linden/Wilhelmstraße, das wird heute von Bundestagsabgeordneten genutzt, und das andere, da sitzt heute das Bundesministerium für Verbraucherschutz drin.

    Netz: Frau Steur, man soll durch Ihre Ausstellung ja so durchgehen können wie früher durch die Wilhelmstraße. Wie haben Sie das rekonstruiert? Wie wird das erlebbar gemacht?

    Steur: Wir haben Häuser gebaut, 2,50 Meter hoch, 1,50 Meter breit und 40 Zentimeter tief, und da die alten Fassaden draufgezogen, also Fotos von den alten Fassaden, und man kann jetzt quasi, wenn man vom Brandenburger Tor Unter den Linden langläuft und rechts in die Wilhelmstraße einbiegt, an diesen alten Gebäuden links und rechts durchgehen, durch die Straße bis hinter zum damaligen Geheimen-Staatspolizei-Amt und zum SS-Haus und sich das alles in Ruhe angucken. Und wenn man dann die Türen öffnet, also hinter die Fassaden schauen möchte, dann kann man reinsehen und bekommt zusätzliche Informationen über die Behörde.

    Netz: Was wollen Sie denn zeigen mit Ihrer Ausstellung, indem Sie das NS-Regierungsviertel so nach-erlebbar machen? Geht es darum, wie gut die Nazis Macht zu inszenieren wussten, oder was wollen Sie belegen?

    Steur: Ja auch, völlig korrekt. Also es geht darum, die sichtbaren Veränderungen, die die Nationalsozialisten in dieser Straße vorgenommen haben, zu zeigen, zu zeigen, wie sie die Straße als politische Bühne genutzt haben – das ist der eine Teil. Der andere Teil, der aber eigentlich noch viel bedeutender ist, ist zu zeigen, was hinter den Fassaden in den Häusern passiert ist, nämlich diese ganzen unsichtbaren Veränderungen, die vorgenommen wurden und die dazu geführt haben, dass ein ganzer Behördenapparat letztendlich auf die Ziele der Nationalsozialisten ausgerichtet wird und die Politik mitmacht.

    Netz: Was meinen Sie jetzt genau mit unsichtbaren Veränderungen?

    Steur: Zu den unsichtbaren Veränderungen gehört zum Beispiel: Wenn man jetzt den 30. Januar 1933 nimmt, den Machtantritt von Hitler, der zieht ganz alleine in diese Straße, in die Reichskanzlei. Kein anderer Nationalsozialist wohnt im Februar 1933 in dieser Straße. Aber wenn wir ein Jahr später gehen, 1934, dann sind all diese Behörden durchsetzt von Nationalsozialisten, und das muss man schaffen.

    Und da gab es verschiedene Methoden der Nationalsozialisten, das zu erreichen: Zum Beispiel hat man missliebige Beamte entlassen, man hat versucht, hohe Nationalsozialisten in wichtige Positionen zu schleusen, wenn es denn ging, hat man gleich den Minister ausgetauscht, und man hat natürlich (ganz wichtig) schon ganz in der Frühphase, ab März 1933 hat Hitler eigene Behörden geschaffen, ganz neue Ministerien zur Umsetzung seiner politischen Ziele. Und dadurch ist innerhalb eines Jahres es wirklich möglich gewesen, diesen Umbau von der Demokratie zur Diktatur zu schaffen.

    Netz: Kann man denn, wenn man aus Ihrer Ausstellung kommt, mit anderen Augen durch die Wilhelmstraße gehen? Oder ist da zu viel nicht mehr zu erkennen? Der Wilhelmplatz zum Beispiel, auf dem die Nazis ja Menschenmassen jubeln ließen, der ist zum Beispiel unter DDR-Gebäuden verschwunden.

    Steur: Das stimmt. Ich hoffe das, es ist einer meiner großen Wünsche, dass das den Besuchern leichter gemacht wird. Es gibt Gebäude, die noch stehen, die kann man wiedererkennen, aber ich habe am Ende der Ausstellung so eine kleine Beamer-Präsentation, wo wir den Gang durch die Wilhelmstraße noch einmal machen, genau in derselben Richtung, also wir fangen von Unter den Linden an und gehen die Straße entlang, zeigen immer ein Foto des zerstörten Ministeriums, was 1945 zerstört wurde oder in den 50er-Jahren abgerissen, je nachdem, und danach gleich ein Foto des heutigen Standorts, an dem dieses Gebäude gewesen wäre, sodass man jetzt wirklich so ein bisschen mehr diese Straße im Blick hat und das eigentlich, hoffe ich, nachvollziehen kann, was wo stand und wie das mal aussah.

    Netz: …, sagt Claudia Steur, die Kuratorin der Ausstellung "Die Wilhelmstraße 1933 bis 1945" in Berlin.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.