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Auftakt beim Kammermusikfest in Lockenhaus
Die Kraft der Schöpfung

Auch nach bald 40 Jahren lockt der besondere Charme des Festivals in Lockenhaus viele Künstler in die Idylle des abgelegenen Dorfes im Burgenland. In der Tradition des Festivals nutzt Intendant Nicolas Altstaedt diesen Rahmen oft, um selten gespielte Werke aufzuführen - so auch an den vier Eröffnungstagen.

Von Marcus Stäbler | 09.07.2018
    Der Cellist und Intendant des Lockenhaus-Festivals Nicolas Altstaedt
    Nicolas Altstaedt, Cellist und Intendant des Lockenhaus-Kammermusikfest (Marco Borggreve)
    Für genau solche Momente reist man nach Lockenhaus. In der barocken Kirche des Dorfes entfacht Nicolas Altstaedt mit befreundeten Kollegen wie der Geigerin Vilde Frang oder dem Bratscher Lawrence Power eine mitreißende Leidenschaft. Sie zieht den Hörer unwiderstehlich in den Sog der Musik hinein: bei der packenden Interpretation des Streichoktetts von George Enescu am vergangenen Freitag.
    "Das Enescu-Oktett ist ein ganz wichtiges Stück für uns gewesen, es ist ein Werk, was viel zu selten gespielt wird und neben Mendelssohn in der großen Oktett-Tradition stehen sollte."
    Ein spannender Prozess von Wachsen und Gedeihen
    Das Meisterwerk des 19-jährigen Enescu hat schon den Festivalgründer Gidon Kremer fasziniert und liegt auch dem heutigen Intendanten Nicolas Altstaedt spürbar am Herzen. Das Stück entwickelt seine romantische Glut aus der kunstvollen Variation eines Kernmotivs.
    "Ein Thema was in einer Metamorphose immer neu geschöpft wird und immer in neuen Perspektiven zu hören ist und im Finale auch ganz stark im Walzer wieder kommt."
    Ein spannender Prozess von Wachsen und Gedeihen. Er beleuchtete einen Aspekt des diesjährigen Festivalprogramms, das Altstaedt unter dem Motto "Creatio" konzipiert hat. In den ersten Tagen lenkte er den Blick verstärkt auf die schöpferische Kraft und das Feuer der Jugend. Mit dem Geniestreich von Enescu, mit dem kaum bekannten Klavierquintett von Béla Bartók, das er ebenfalls mit 17 Jahren schrieb und mit einer europäischen Erstaufführung des erst 23-jährigen australischen Komponisten Jakub Jankowski.
    In der Cellosonate "Aspects of Return" – eine echte Entdeckung! - formuliert Jakub Jankowski eine ganz eigene Klangsprache, mit sehr energischen, aber auch zarten Momenten. Diesen Ton erschaffe er im Dialog mit der Musik selbst, sagt der Komponist. Man dürfe den Vorgang der Schöpfung gar nicht zu sehr mit seinem Gestaltungswillen lenken wollen.
    "Ich weiß nie genau, wie das Stück am Ende wird, wenn ich anfange. Manchmal muss man sein Ego bewusst zurückstellen, um die Musik tun zu lassen, was sie will. Trotzdem habe ich natürlich meine Vorstellungen und Ideen. In diesem Fall hat mich die Verbindung von Streicherklang und Klavier sehr inspiriert. Es gibt da eine bestimmte Alchemie. Man bekommt ganz besondere Farben aus dieser Kombination, die mich sehr gereizt haben."
    Meisterkurs mit Alfred Brendel
    Als Gegenpol zu seiner Jugendoffensive hatte Nicolas Altstaedt zum Auftakt einen großen Altmeister eingeladen. Alfred Brendel ist nach fast 30 Jahren nach Lockenhaus zurückgekehrt. Für einen Meisterkurs heute Nachmittag und für zwei Vorträge am vergangenen Wochenende. Am Samstagabend widmete er sich den drei letzten Klaviersonaten von Franz Schubert. Mit der ihm eigenen gedanklichen Klarheit und sprachlichen Präzision ergründete der mittlerweile 87-jährige Brendel die kompositorische Meisterschaft und die emotionalen Tiefenschichten der Sonaten.
    "In seinen großen Formen ist Schubert ein Wanderer. Abgründe ziehen ihn an. Mit der Sicherheit eines Schlafwandlers geht er an ihnen entlang. Das Wandern ist der romantische Zustand, man überlässt sich ihm glücklich und hingerissen wie im Finale der A-Dur-Sonate. Oder man ist ein Getriebener und erfährt, wie in der c-Moll-Sonate, die Panik der Ausweglosigkeit. Unter dem Glück wohnt oft die Verzweiflung, jäh verdunkelt sich das Bewusstsein."
    Alfred Brendel ergänzte seinen Vortrag mit kurzen Musikausschnitten, die er entweder live am Flügel andeutete oder aber von eigenen Aufnahmen spielte. Einen spannenden Kontrast dazu boten drei Nachtkonzerte mit dem Pianisten Alexander Lonquich. Lonquich, unter Nicolas Altstaedt Stammgast in Lockenhaus, interpretierte genau dieselben späten Schubert-Sonaten, über die Brendel gesprochen hatte, wählte aber einen ganz anderen, teilweise gegensätzlichen Zugang – etwa mit einem viel langsameren Tempo im Andantino aus der A-Dur-Sonate.
    Familiäre Festival-Atmosphäre
    Solche unterschiedlichen Ansätze bieten reichlich Gesprächsstoff für das Lockenhauser Publikum. Auch die Diskussions- und Streitlust gehört zum Charme von Lockenhaus, dessen Stammbesucher dem Festival teilweise schon über drei Jahrzehnte die Treue halten und sich entsprechend lange und gut kennen. Diese Vertrautheit und die ländliche Idylle sorgen für eine familiäre Atmosphäre, in der sich auch die Musiker zu Hause fühlen, wie Nicolas Altstaedt bestätigt.
    "Sicherlich sind wir hier mit dem Ort vertraut, wir sind mit den Mitspielern vertraut, und es gibt so ein – jetzt sind wir bei einer Fußball-WM - Gefühl von Heimspiel. Und vielleicht kann man das mit diesem Begriff am besten nachvollziehen. Es fühlt sich wie ein Heimspiel an, und ich glaube, das kann jeder auch Nicht-Musiker verstehen, was da für Gefühle dahinter stecken."