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Augenzeuge erster Hand

340 Jahre nachdem Samuel Pepys begonnen hat, Tagebuch zu schreiben, liegen die vielen tausend Seiten nun vollständig auf Deutsch vor. Das Besondere: Pepys war nahe genug dran, um die Geschehnisse durchschauen zu können, aber immer distanziert genug, um nicht Parteigänger zu sein.

Von Rainer Schmitz | 09.01.2011
    Ende letzten Jahres war ich, Gott sei es gedankt, bei sehr guter Gesundheit, spürte nichts von meinem alten Steinleiden und hatte lediglich eine Erkältung. Ich wohne mit meiner Frau und dem Dienstmädchen Jane am Axe Yard, und der Haushalt besteht nur aus uns dreien. Nachdem bei meiner Frau sieben Wochen lang die Regel ausgeblieben war, hoffte ich, sie bekäme ein Kind, doch am letzten Tag des Jahres bekam sie sie wieder.

    Mit diesen klaren, ja geradezu schlichten Worten beginnt ein eigenartiges, viele tausend Seiten umfassendes Tagebuch, das heute- mehr als 340 Jahre nach seinem Beginn - zu den berühmtesten der Weltliteratur zählt. Und es liegt nun erstmals vollständig auf Deutsch vor. Geführt hat Samuel Pepys sein Tagebuch zwischen dem 1. Januar 1660 und dem 31. Mai 1669.

    Dieses Jahrzehnt ist eines der aufregendsten der englischen Geschichte. Nach zwölfjähriger Herrschaft wird die Cromwell-Republik gestürzt und die Monarchie wieder eingeführt. Dann 1665 der Ausbruch der Pest mit etwa 100.000 Toten allein in London. Und im Jahr darauf der Große Brand von London, der innerhalb von drei Tagen nahezu die gesamte Altstadt in Schutt und Asche legt. Sowie der englisch-holländische Seekrieg, in den Pepys Kraft seines Amtes verwickelt war. Mit der Restauration setzt auch Pepys' Tagebuch ein: er steht gerade am Beginn seiner Karriereleiter. Und vielleicht - wir wissen es nicht - war dies der Grund seiner täglichen Berichterstattung: Pepys ist Augenzeuge erster Hand. Er war nahe genug dran, um die Geschehnisse durchschauen zu können, aber immer distanziert genug, um nicht Parteigänger zu sein, sondern seine eigene Meinung und Moral zu vertreten.

    4. Dezember 1660: Heute beschloss das Parlament, dass die Leichen von Oliver Cromwell, Henry Ireton, John Bradshaw und *** aus ihren Gräbern in der Abtei geholt, zu den Galgen geschleift, dort aufgehängt und schließlich darunter verscharrt werden sollen. Einen so tapferen Mann derart zu demütigen, das will mir wahrlich nicht gefallen, obwohl er es in anderer Hinsicht vielleicht verdient hat.

    Am 8. Februar 1668 zum Beispiel verurteilt Pepys "die große Verblendung des Unterhauses" und "die schändliche Handlungsweise des Oberhauses". Wer war dieser bemerkenswerte Mensch? Und was macht seine Aufzeichnungen so bedeutsam? Samuel Pepys wurde 1633 in London als Sohn eines Schneiders geboren, besuchte hier die Schule, studierte anschließend am Magdalene College in Cambridge. 1655 heiratete er die erst fünfzehnjährige, überaus attraktive Elizabeth St. Michel.

    Etwa zur gleichen Zeit trat Pepys in die Dienste seines adligen Vetters Edward Mountagu, des späteren ersten Grafen von Sandwich, der ihm den Weg in eine Stellung als Schreiber beim Schatzamt ebnete. Schon nach wenigen Monaten wird er zum Ersten Sekretär des Flottenamtes ernannt. Damit ist Pepys einer von vier leitenden Beamten der wichtigsten Behörde und des größten Arbeitgebers des Königreiches. Das Flottenamt unterstand direkt der Admiralität, das vom Herzog von York, dem Bruder von König Charles II., geführt wurde.

    Pepys ist zuständig für die Beschaffung, Ausrüstung, Bemannung und Wartung der Schiffe, für die Verwaltung der Werften und für die Bezahlung der Seeleute. Nebenbei wird er zusätzlich Schreiber im Siegelamt sowie Sekretär im Hause Sandwich. Seine Stellung bringt es mit sich, dass er mitunter bei Hofe auftritt. Als Sachverständiger berichtet er dem Parlament, manchmal auch dem Gericht, die ihn für seine Sachkenntnis schätzen.

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    Und Pepys steigt immer weiter auf. Im englisch-holländischen Seekrieg rückt er in die Admiralität auf, reorganisiert die Marine und lässt dreißig Schiffe bauen. Später, Jahre nach Abschluss der vorliegenden Tagebücher, wird er als der wichtigste Mann in der britischen Marineverwaltung selber mehrfach Mitglied des Parlaments. Er steigt sogar zum Staatssekretär auf - und wird einmal irrtümlich eingekerkert.

    Pepys ist nicht nur eingebunden in das Spiel der Intrigen, des Kräftemessens der Höflinge und Beamten, des geheimen Netzes der Nutznießer von Protektion und Korruption - als Teilnehmer der politischen und illustren Zirkel profitiert er selbst davon, verschafft sich Vorteile, lässt sich für seine Dienste und Vermittlungen materiell reichlich entschädigen.

    Er genießt seine Geschicklichkeit, seine Macht, seinen materiellen Aufstieg: Im Zeitraum, den sein Tagebuch umfasst, wächst sein Vermögen von 25 auf über 10.000 Pfund. So viele verantwortliche Positionen - denkt man - lassen ihm nicht viel Zeit. Doch jeden Tag schreibt er sein Pensum, berichtet über seinen Alltag im Navy Board und verknüpft ungewollt und auf bis dahin nicht gekannte Weise Ereignisse von welthistorischer Bedeutung mit seiner nicht minder aufregenden privaten Lebensgeschichte. Pepys' Alltag übervoll an Ereignissen, Bebachtungen und Aufregungen.

    Pepys Aufzeichnungen sind eine wichtige dokumentarische Quelle für die Ereignisse der Zeit, denn unter Charles II. waren fast alle Zeitungen der Zensur zum Opfer gefallen. Seine akribischen Angaben und Kommentierung der großen Ereignisse - vor allem der Pest und des Großen Feuers von London - machen ihn zum Chronisten des Systems. Er führt hinein in die sonst kaum durchschaubare Verwaltung, Diplomatie, Finanzwelt und Justiz.

    Überblickt man aber das gesamte Tagebuchwerk, wird deutlich, dass Pepys gar nicht Zeitgeschichte dokumentieren wollte. Ihm ging es vielmehr um ihn selbst, um seine individuelle Geschichte. Große Politik und historische Ereignisse sind nur dann für ihn interessant, wenn sie in sein privates Leben eingreifen. Tagebuchschreiben - das war für ihn die Erweiterung seiner persönlichen Freiheit.

    ... zu meinem Buchhändler an der Strand, wo ich eine Stunde blieb und das schändliche, unzüchtige Werk L'Ecole des filles kaufte, aber nur die einfach gebundene (nicht in besserem Einband), weil ich entschlossen bin, es nach dem Lesen sofort zu verbrennen und es nicht ins Bücherverzeichnis und meine Bibliothek aufzunehmen, um meinen Büchern keine Schande zu machen, wenn es dort gefunden wird. (8. Februar 1688)

    Am nächsten Abend, einem Sonntag, las er allein in seinem Zimmer L'Ecole des filles zu Ende:

    Ein unzüchtiges Buch, aber es schadet mir nicht, da ich es bloß zur Belehrung lese (doch brachte es meinen Schwanz die ganze Zeit para Stehen und una vez zum decharger). Hinterher verbrannte ich es, damit man es nicht zwischen meinen Büchern findet, zu meiner Schande.

    Was soll man von einem Mann halten, der nicht nur ein unzüchtiges Buch kauft, sondern der sich dessen schämt, der es aber dennoch tut und dann beides im Tagebuch festhält - dass er es tut und dass er sich schämt. Das nennt man Ehrlichkeit.

    Und diese Ehrlichkeit ist die Basis seines Tagebuches. Allen Schilderungen, selbst die Sottisen sowohl aus seinem beruflichen Alltag im britischen Flottenamt wie auch aus seinem privaten Leben, sind daran zu messen. Das Leben und Treiben in den Häusern, Geschäften und Restaurants der Stadt, die Schicksale von Familienangehörigen, die Begegnungen mit Freunden und Kollegen. Man besucht mit ihm eine Ausstellung, eine Theateraufführung, erlebt Parlamentsdebatten, medizinische Darbietungen und neueste wissenschaftliche Geräte. Ein wacher, aufgeschlossener, intelligenter, neugieriger und wissensdurstiger Mensch tritt hier dem Leser entgegen, den das Leben in allen Facetten interessierte:

    Kaufte mir heute eine grüne Brille.

    Das machte sein Leben aus: Ein barocker Genussmensch, der sich seines Wohlstandes bewusst ist und den Tag genießt.

    Während alle Welt das Glück in der Zukunft sucht, richte ich meinen Blick auf die Gegenwart und genieße die Freuden des Augenblicks.

    Rückhaltlos offen erzählt Pepys aber auch von den Qualen, die ihm die Versuchungen seines wachsenden Wohlstandes bereiteten: Seine geliebte Bibliothek, seine Leidenschaft für Theater und Musik - er komponierte und spielte vorzüglich auf der Laute -, für schöne Gemälde, für gutes Essen, teure Bücher - und für die neuen Wissenschaften: Pepys ist Mitglied der Royal Academy, und er korrespondiert mit Isaac Newton.

    Für Schmuck, Kleidung, kostbares Geschirr, für Porträts, Büsten und wertvolle Folianten, für die luxuriöse Ausstattung der Wohnung, für eine eigene Kutsche wird viel Geld ausgegeben. Seine Lieblingsspeise:

    Am liebsten lade ich Gäste ein. Ein Festessen sieht etwa aus: Eine Schüssel Markknochen, ein Hammelbein, eine Kalbslende, Hähnchen, drei Masthühner und zwei Dutzend Lerchen, alles auf einer Platte, eine schöne Pastete, eine Ochsenzunge, eine Schüssel Sardellen, eine Schüssel Garnelen sowie Käse.

    Dazu kredenzt er aus seinem reich gefüllten Weinkeller süßen Kanarienwein, Claret, Sekt, spanischen Tinto, Malaga. Und nicht zuletzt die schönen Frauen, und immer wieder die Frauen. Pepys war zwar stolz auf seine schöne, ihm angetraute Elizabeth. Doch immer hatte er Augen für andere. An den Frauen schätzte er …

    … über alle Maßen ihre Schönheit. Schönheit und Eleganz. Vor allem Mrs. Stuart: dieses Kleid, der kecke Hut, die rote Feder, ihr reizender Blick, die kleine römische Nase und ihre gertenschlanke Figur; sie ist die schönste von allen.

    Aber auch Lady Castlemaine, die Mätresse des Königs, hatte es ihm angetan:

    Ich verschlang sie förmlich mit Blicken.

    Wenn er den Gesellschafterinnen seiner Frau verliebte Blicke zuwarf und den Dienstmädchen des Hauses nachstellte, wurde Elizabeth derart rasend eifersüchtig, dass er ihr immer wieder seine Liebe schwor, um sie zu besänftigen. Und er liebte sie wohl wirklich. Dennoch - nur eines von vielen Beispielen - am 18. Juli 1663 war Pepys in Westminster Hall, wo er bei Mrs. Lane einige Halsbinden abholen wollte.

    Meine Halsbinden waren aber noch nicht fertig. Wir trennten uns daher und trafen uns wieder in der Crown am Palasthof. Aßen (ich hatte ein Hühnchen bestellt) und tranken und waren sehr vergnügt. Ich durfte sie berühren und mit ihr tun, was ich tun wollte, bis auf das eine, und ich ließ sie auch mein Ding anfassen und drückte die Spitze an ihre Brüste und schließlich auch weiter unten - wofür ich mich schrecklich schäme. Bin fest entschlossen, es nicht wieder zu tun.

    Natürlich tat er es immer wieder. Nicht alle seine kleinen Abenteuer dürfte Pepys in der Chronik seines Lebens registriert haben. Und seine Frau war wohl auch nicht auf dem Laufenden. Denn der 25. Oktober 1668 trug ihm den größten Ärger ein, den er sein Lebtag auch kaum wieder vergessen sollte.

    An jenem Abend ließ er sich von Deb, dem Dienstmädchen, das Haar kämmen. Als seine Frau plötzlich hereinkam,

    hielt ich das Mädchen gerade im Arm con der Hand sub su Röcken. Tatsächlich hatte ich gerade die main in ihrer Ritze. Ich war wie vom Schlag gerührt, das Mädchen ebenso. Ich versuchte so zu tun, als sei nichts gewesen, doch als meine Frau die Sprache wiederfand, fing sie an zu schimpfen und geriet ganz außer sich.

    Noch Tage erging sich Elizabeth in eifersüchtigen Wutanfällen, ja griff auch schon mal zum Feuerhaken, wenn sie ihn beim Lügen und neuerlichen Betrügen erwischte.

    Komisch, teils aber auch erschütternd, immer jedoch überschäumend in den Details zeigt sich Pepys in seinem Tagebuch als ein Mann, der noch mit Vierzig jugendlich geblieben ist. Wo es um das urbane Leben Londons im 17. Jahrhundert geht, findet sich diese Zeit nirgends so detailliert und umfassend abgebildet wie in Pepys Tagebüchern. Ehestreitigkeiten und Zänkereien mit den Dienstboten, Verdauungs- und Darmbeschwerden werden mit der gleichen Präzision geschildert wie schwierige politische oder militärische Entscheidungen im Krieg gegen Holland. Sein Tagebuchwerk gehört längst zum Kanon der englischen Geschichtsschreibung.

    Man weiß nicht, ob Pepys diese Aufzeichnungen nicht doch für eine Öffentlichkeit nach seinem Tode gedacht hat. Mehrere Andeutungen lassen darauf schließen. Dass er die Tagebücher in der Shelton-Kurzschrift verfasste, weist jedoch darauf hin, dass er keinem Zeitgenossen Einblick geben wollte. Denn das wäre sein gesellschaftlicher Tod gewesen. Also hat er die Tagebücher, wie seine anderen Bücher der etwa 3000 Bände zählenden Bibliothek, uniform einbinden lassen, womit sie praktisch unsichtbar wurden.

    Testamentarisch hatte Pepys verfügt, dass seine Bibliothek nach seinem Tod geschlossen an das Magdalene-College nach Cambridge geht, wo er seine Ausbildung einst genoss. Pepys starb siebzigjährig im Jahre 1703. Doch erst 21 Jahre später, 1724, wird die Bibliothek dorthin verbracht. Noch einmal hundert Jahre sind vergangen, bis der Schatz gehoben wird: 1825 gibt Richard Lord Braybrooke erstmals eine Auswahl aus den sechs in Kalbsleder gebundenen Bänden heraus. Sie machte Samuel Pepys schlagartig bekannt. Sir Walter Scott, der Erfinder des historischen Romans, schwärmte:

    Nie zuvor haben wir eine so reiche Darstellung des Innern eines Menschen gesehen.

    Noch waren jedoch nur die politisch-historischen interessanten Passagen veröffentlicht, die pikanten erotischen und obszönen Details blieben weiterhin unter Verschluss. Aber sie wurden nach und nach in den folgenden Ausgaben gelüftet. Die erste wirklich vollständige, historisch-kritische Edition der Tagebücher veröffentlichten Robert Latham und William Matthews in elf Bänden in den Jahren 1970 bis 1983. Und diese Ausgabe führte zum ersten Mal deutlich vor Augen, dass Samuel Pepys einer der bedeutendsten Autoren im Genre der autobiographischen Literatur ist.

    Nun liegen diese intimen Aufzeichnungen und Bekenntnisse nach fast vierjähriger Übersetzungs- und Lektoratsarbeit zum ersten Mal vollständig auf Deutsch vor - ungekürzt und unzensiert. Insgesamt 4416 Seiten in neun Bänden, erschienen im Verlag Haffmans & Tolkemit. Dazu gibt es ein Companion mit dem berühmten Essay von Robert Louis Stevenson, mit Stammbaum, Entschlüsselung des erotischen Vokabulars, mit einer Chronik, ausführlichem Personenverzeichnis und mit Materialien in Wort und Bild, wie Stadtplänen von London und zeitgenössischen Abbildungen. Besorgt haben diese Ausgabe der Verleger Gerd Haffmans und der Lektor Heiko Arntz.

    Eines der größten Übersetzungs- und Editionsprojekte der letzten Jahre übertrumpft die bisherigen deutschen Auswahlausgaben, die alle zusammen nur etwa zwanzig Prozent des Originals wiedergeben.

    Gottseidank arbeitet Pepys nicht an seiner historischen Gestalt. Er will - was für ein Glücksfall - gar nicht als Zeitzeuge, als politischer Sachverständiger verstanden wissen. Pepys wendet sich an keine Öffentlichkeit. Das macht seine Tagebücher zu einem vergnüglichen und kurzweiligen Leseerlebnis. Das größte irdische Glück des Samuel Pepys war:

    Genug Geld zu besitzen, um mir ein gutes Buch und eine gute Geige zu kaufen, und eine gute Frau zu haben.

    Samuel Pepys: Sämtliche Tagebücher 1660-1669. Haffmans und Tolkemit Verlag. 169,90 Euro