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Augenzeugenberichte von türkisch-syrischer Grenze
"Sie sahen aus wie Leute von der Terrormiliz IS"

Eine Woche nach Beginn der türkischen Offensive an der Grenze zu Syrien scheint die vereinbarte Waffenruhe nicht zu halten. Die Menschen dort haben vor allem Angst vor der verbündeten Miliz der Türkei, die sich selbst syrische Nationalarmee nennt. Sie halten sie für gefährliche Islamisten.

Von Karin Senz | 20.10.2019
    Rauch steigt nach einem Beschuss in der syrischen Stadt Ras al-Ain auf.
    Beschuss in der syrischen Stadt Ras al-Ain: Etwa zur Halbzeit der Waffenruhe werfen sich die Türkei und kurdische Milizen gegenseitig vor, diese zu brechen. (OZAN KOSE / AFP)
    Gleich zu Beginn der Offensive waren in der türkischen Grenzstadt Akcakale Granaten eingeschlagen. Mehrere Menschen starben. Ein paar Tage später, noch bevor eine Waffenruhe vereinbart wird, versucht sich das Rathaus, das Erdogans Partei AKP regiert, in Normalität. Es gibt einen Empfang für Geschäftsleute aus dem ganzen Land. Der Textilfabrikant Adil Nabunt aus Istanbul ist einer von ihnen:
    "Zuallererst sind wir hier, um moralische Unterstützung für die Offensive zu leisten. Und als Geschäftsleute sind wir in die Region gekommen, um, wenn wieder Frieden herrscht, in die wichtige Baumwoll- und Textilproduktion zu investieren. Das ist wichtig."
    Sprachregelungen aus Ankara
    Nach einer Ansprache des AKP-Bürgermeisters bekommen die Gäste, überwiegend Herren im dunklen Anzug, türkischen Kaffee und frisches Gebäck im Foyer gereicht. Als sich der Bürgermeister mit ihnen unterhält, spricht er aus Versehen vom Krieg gegen die Kurdenmilizen. Der Istanbuler Geschäftsmann stellt klar:
    "Das hier ist kein Krieg."
    Diese Sprachregelung hat Erdogan vorgegeben.
    Vorsichtige Kritik an der türkischen Offensive
    50 Kilometer westlich ebenfalls an der syrischen Grenze liegt Suruc. Hier stellt die prokurdische HDP die beiden Bürgermeister. Hatice Cevik sitzt in Jeans und legerer Bluse in einem kahlen Sitzungsraum ohne Bilder an der Wand. Die 49-Jährige erzählt von enormem Druck durch die Regierung und zeigt ein Schreiben des übergeordneten Gouverneurs:
    "Das hab ich heute bekommen. Es verbietet, jegliche Informationen der Presse zu geben oder Interviews."
    Sie tut es trotzdem und wirkt dabei sehr erschöpft. Die letzten Tage haben nicht nur sie ausgelaugt. In Suruc leben überwiegend Kurden. Einwohner von Dörfern nahe der Grenze, die zur Stadt gehören, haben ihre Häuser verlassen. Vor ein paar Tagen seien drei Menschen dort durch Mörsergranaten gestorben. Wer sie abgefeuert hat, ist nicht klar. Auf der anderen Seite liegt Kobane. Die Kurdenmiliz YPG kontrolliert die Stadt, seit sie sie von der Terrormiliz IS befreit hat. Ein paar Männer sitzen in einem staubigen Hinterhof-Café in Suruc beim Brettspiel. Sie kritisieren die türkische Offensive – vorsichtig:
    "Auf beiden Seiten der Grenze leben Kurden. Wenn sie leiden, dann leiden wir auch. Ich habe Verwandte drüben. Wenn sie sie beleidigen, dann beleidigen sie auch uns."
    "Sie haben Allahu Akbar gerufen"
    Es gehe ihnen schlecht, erzählt dieser Mann. Ein anderer setzt sich zu ihm. Er ist aus Ceylanpinar geflohen. Auch in dieser türkischen Grenzstadt waren während der Offensive immer wieder Granaten eingeschlagen. Allerdings habe er keine Angst vor der Kurdenmiliz YPG, sondern vor der verbündeten Miliz der Türkei, die sich selbst syrische Nationalarmee nennt. Für ihn sind das gefährliche Islamisten:
    "Wir haben sie auf den Straßen gesehen, wie sie an uns vorbei gefahren sind. Sie sahen aus wie Leute von der Terrormiliz IS, mit genau den gleichen Bärten im Gesicht. Da waren bestimmt 15-20 Lastwagen. Sie fuhren in Richtung Ras Al Ain. Sie haben das Zeichen der der Nationalisten gemacht und Allahu Akbar gerufen, also Gott ist groß."
    Am Donnerstagabend dann die Überraschung: Die Türkei und die USA beschließen eine Waffenruhe. Bis Dienstag soll sich die YPG zurückziehen, solange darf die Türkei nicht angreifen.
    Größte Oppositionspartei CHP steht hinter Erdogan
    Auf dem alten Basar von Sanliurfa, der Provinzhauptstadt der Region, sehen das viele als einen Erfolg Erdogans, auch der Tabakverkäufer Mehmet. Er sitzt auf einer Bank mitten auf einem Platz – als würde er Hof halten. Andere Händler hören aufmerksam zu, als er seine Sicht der Dinge schildert:
    "Die YPG bedeutet Terror. PYD, YPG, PKK und auch der İS, das sind alles Terroristen. Sie sind gegen alle Staaten. Amerika hat sie unterstützt. Sie haben gedacht, sie können einen Kurden-Staat gründen, indem sie einen Teil von der Türkei, einen Teil vom Irak und einen Teil von Syrien bekommen."
    Er ist Mitglied der größten Oppositionspartei CHP. Erdogan hat sie bei seiner Offensive in Nordsyrien hinter sich gebracht – ein innenpolitischer Sieg des türkischen Präsidenten. Mehmet ist sich sicher sich sicher, auch bei der Operation in Nordsyrien wird die Türkei am Ende der Sieger sein. Ein Händler hat eine türkische Flagge geholt, die er küsst. Die anderen Händler nicken zustimmend.