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"Aus dem Atem entsteht das Wort, die plastische Sprache"

Jean-Louis Barrault war ein französischer Schauspieler und Regisseur. Geprägt von dem Körpersprachler Étienne Decroux zeigte er der Welt ein melancholisches, inniges Filmgesicht.

Von Hildegard Wenner | 08.09.2010
    "Der ekstatische Zustand, in dem ich mich befand, machte mich sicher unempfindlich, vielleicht unverschämt. Ich hätte, wenn nötig, mit der gleichen Ungerührtheit Vater und Mutter getötet."

    Nichts wird diesen Mann davon abhalten, das wilde Pferd zu zähmen. Er strampelt um sein Leben, hat weder Zaumzeug noch Sporen, trägt gerade mal eine Unterhose – aber: Weit und breit kein Pferd. Eine Putzfrau im Pariser Atelier-Theater auf dem Montmartre schaut den pantomimischen Verrenkungen des schmächtigen 25-jährigen Jean Louis Barrault eine Weile zu, stellt dann die alles entscheidende Frage:

    "Was machen Sie da die ganze Zeit auf dem Pferd?"

    1935, nach dem etwas kuriosen Regiedebüt, einer weitgehend wortlosen Adaption von William Faulkners Roman "As I lay dying" fand Antonin Artaud auf Anhieb, diese obsessive Bühnenshow passe genau zu seinem erst neulich erfundenen Theater der Grausamkeit. Barrault, der am 8. September 1910 in Le Vésinet nahe Paris geboren wurde, nannte sein Theater später lieber ein "totales". Da durfte nicht mal der kleine Zeh nutzlos auf der Bühne herumstehen.

    "Wenn man den Menschen als Ausdrucksmittel der Dramatik betrachtet, dann besteht dieses menschliche Wesen aus einer Wirbelsäule und seinem Atem. Von dieser Wirbelsäule gehen alle Bewegungen aus, die sich in ihrer kristallisierten Form und rhythmisch in Mimik und Tanz verwandeln. Aus dem Atem entsteht das Wort, die plastische Sprache."

    Der Theatermensch Jean-Louis Barrault schenkt der Welt auch das traurigste, melancholischste, innigste Filmgesicht des 20. Jahrhunderts. Nach Jacques Preverts Drehbuch, unter Marcel Carnés Regie spielt er in "Kinder des Olymp" den Pantomimen Baptiste Debureau, der die Schauspielerin Garence liebt. Barrault ist, als der Film 1945 im befreiten Paris herauskommt, schon seit fünf Jahren Schauspieler, Regisseur und Sozietär der Comédie Francaise, wo er einen für ihn selbst viel wichtigeren Erfolg verbucht. Die Uraufführung von Paul Claudels "Seidenem Schuh" 1943:

    "Mein lieber Barrault! Wie glücklich wäre ich, mit Ihnen arbeiten zu können. Der ‚seidene Schuh’ wäre wunderbar – aber was für eine Arbeit! Alles müsste den Eindruck des Improvisierten erwecken, des Zusammenhanglosen, müsste in ständiger Bewegung sein. Dazwischen bis ins Detail ausgefeilte Passagen. Glauben Sie nicht, dass wir mit etwas Leichterem beginnen sollten?"

    Schrieb Claudel an seinen Regisseur, der auch alle anderen Stücke des Autors inszenieren sollte. 1946 verließ Barrault zusammen mit seiner Frau, der Starschauspielerin Madelaine Renaud, die konventionelle Comédie, um eine eigene, nach ihnen benannte Truppe zu gründen. Im privaten Theater Marigny stimmte die Kasse, solange das Publikum Barraults Wagnissen mit neuen Dramatikern und älteren literarischen Vorlagen folgen mochte. Wenn nicht, ging man eben auf Welttournee. Dann wollten die Franzosen ihre Companie doch zurückhaben, so sehr, dass Kulturminister André Malraux den – sagen wir mal Kollegen, denn Barrault schrieb auch Bücher – 1959 zum Staatstheaterintendanten ernannte, am L’Odeon, fürderhin Théâtre de France. Und Bühne für Beckett, Genet, Ionesco, Duras.

    "Diese neue Aufgabe im Théâtre de France von der neuen Saison an ist für unsere Companie die schönste Belohnung für die Anstrengungen in den letzen 13 Jahren."

    Leider lag das Haus ziemlich nah an der Universität und war trotz progressiver Autoren und Regisseure doch ein Bürgertempel, der im Mai 68 folgerichtig gestürmt werden musste. Der Hausherr ließ die Studenten gewähren und sich von einem gewissen Cohn-Bendit so beeindrucken, dass er schließlich selber fand:

    "Barrault ist tot!"

    Die Studenten trieb die Polizei davon, den Theaterdirektor der Kulturminister. Noch drei Mal zog die nun wieder private Truppe Barrault/Renaud um: Sie eroberte eine Catcherhalle und den Ex-Bahnhof am Quai d’Orsay, wo Barrault als Nietzsches "Zarathustra" wie durch einen Shakespearschen "Sommernachtstraum" mit Kühen tanzte. Um zuletzt wieder an den Champs-Elysées anzukommen. In einem alten Schlittschuhpalast leitete er das "Théâtre du Rond-Point", spielte kleinere Rollen beinahe bis zu seinem Tod 1994.

    Seinen Geburtstag, den 8. September, teilt Jean-Louis Barrault übrigens mit der Mutter Gottes und Alfred Jarry. Diese Gesellschaft, schrieb er in seinen "Erinnerungen für morgen", gefällt mir.