Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Aus dem Dunkeln heraus gesprochen

Nicht zufällig widmete der 1925 geborene Franzose Michel de Certeau sein Buch "Mystische Fabel" den Nomaden, Wandernden und Querdenkern, galt er doch selbst in der modernen Wissenschaft als ein solcher.

Ein Beitrag von Cornelia Jentzsch | 31.03.2011
    "Im Sündenpfuhle schläft der Mystiker / in aller Ruhe träge als Fanatiker... "

    So heißt es in einem Spottgedicht von 1695. Und noch heute hat der Ausdruck "mystisch" bisweilen einen weltfremden Beigeschmack. Dabei waren jene Mystiker ihrer damaligen Zeit sogar voraus. Warum und auf welche Weise, erfährt man aus dem über 500 Seiten starken Buch "Mystische Fabel" des französischen Autors Michel de Certeau - ins Deutsche aufs Beste übersetzt von Michael Lauble. Kenntnisreich und provokativ erhellt Certeau ein kultur- und religionsgeschichtliches Phänomen, das nicht nur bis in die moderne Zeit nachklingt.

    Denn die Mystiker lebten über mehrere Jahrhunderte hinweg vor, wie man sich im Spannungsfeld zwischen Individualität und Institution bewegt. Im Buch von Certeau geht es vor allem um die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts und dabei besonders um die Vermittlung von sprachlichen und methodischen "Taktiken, Listen und Fährten individueller Selbstbestimmung", wie der Theologe Daniel Bogner in seinem sehr informativen Nachwort verdeutlicht. Die Mystik, so schreibt er, ist eine Brückeninstanz zwischen der alten und der modernen Zeit. Auch wenn sich die Sinnsuche des Lebens, um die es ebenso geht in diesem Buch, vom religiösen Gebiet in inzwischen andere soziale Kontexte verlagert hat. Das ursprünglich religiös geprägte Schema bleibt jedoch weiterhin intakt und in vielem prägend.
    Als die Mystik vor mehr als einem halben Jahrtausend aufkam, markierte sie, so Bogner, eine Zäsur:

    "Sie steht an der Schwelle zwischen zwei Weltbildern: dem des ausgehenden Mittelalters und dem der anbrechenden Neuzeit. Wo Religion und Welt bislang ontologisch miteinander verfugt waren, klafft nun ein tiefer Graben..."

    Das Wort Gottes, bis dahin das Universum ordnend und Sinn stiftend, wurde als Folge der Aufklärung zunehmend leiser. "Die Welt spricht nicht mehr", schreibt Michel de Certeau und erklärt:

    "Neue Methoden konstruieren Regeln, statt Gesetze zu enthüllen... Sie werten die Zeit in einer Ökonomie der Arbeit auf ...und wählen die Situationen, die ihr als Material dienen, nach dem Kriterium der Nützlichkeit aus.... Unter dem Aspekt, der uns beschäftigt, könnte das große Kennzeichen der Geschichte des 13.-15.Jh. die Technisierung der Eliten und die Marginalisierung einer Mehrheit der Bevölkerung gegenüber den Codes der Welt sein, die bis dahin als Netz von Beziehungen funktioniert hat. Diese Situation macht die Gesellschaft undurchsichtig."

    Deutlicher als andere empfanden die Mystiker, welch unwiederbringlicher Verlust als Preis für das neue Zeitalter zu zahlen war. Sie spürten besonders schmerzlich die fundamentale Auflösung einer bis dahin funktionierenden Sinngemeinschaft der Christenheit.
    Die Mystiker zählten damals zu denjenigen, die an den Rändern der Gesellschaft lebten und deshalb besonders feinfühlig reagierten.

    "Sie gehören Regionen und Kategorien an, die sich in einer sozioökonomischen Rezession befinden und durch Veränderungen benachteiligt, durch den Fortschritt marginalisiert oder durch die Kriege ruiniert sind. Diese Verarmung stachelt die Erinnerung an eine verlorene Vergangenheit an... Sie lenkt das Verlangen, dem die Pforten zur sozialen Verantwortung verschlossen sind, auf die Räume der Utopie, des Traums oder des Schreibens."

    Gott, das heißt sein abwesender Körper, wurde für die Mystiker zum Objekt ihres Begehrens. Ein Verlangen, das sie bis ins Erotische steigerten. Ihre zahlreichen Texte, vor allem ihre Gedichte, handelten von Verlust des einen Einzigen, wie sie Gott nannten, und ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihm.

    Die Geschichte des Christentums kennt eine lange Tradition dieses Verlustschmerzes. Praktisch seit den Anfängen des Evangeliums, schreibt Certeau, war sie gezeichnet vom Verlust von Körpern.

    "Zum leeren Grab kommt Maria von Magdala, diese namensgebende Gestalt der modernen Mystiker: 'Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Jesus' Da-Sein besteht in dem Paradox, dass er 'hier gewesen ist', dass er 'anderswo weilt' und dass er 'später wiederkommen wird'. Sein Körper ist durch das Verschwinden strukturiert wie eine Schrift."

    Hinzu komme der Verlust des 'Körpers' von Israel, einer Nation und ihrer Genealogie. Certeau spricht deshalb von einem "Gründungsschmerz". Den die Mystiker bereit waren, mit ihrem eigenen Körper zu verarbeiten.

    Obwohl Individuum wie Institution das gleiche Schicksal ereilte - das heißt beide durch die Geschichte beschädigt waren - stigmatisierte die offizielle Kirche die ihr unheimlich werdenden und angeblich verrückten Mystiker. Mystisch wurde, so Certeau, was sich von den - ob der Unsicherheiten - immer mehr verfestigenden und erstarrenden Institutionen loslöste. Man wollte die Mystiker nicht verstehen, und verdrängte sie sicherheitshalber aus dem zerbrechenden Zentrum.

    "Sie erleben den Zerfall eines Kosmos und werden daraus verbannt."

    Deshalb lauschten die Mystiker von den Rändern her und vereinsamt nach den wenigen erhaltenen Stimmen, die für sie das verdunkelte Wort Gottes noch sprachen. Sie fanden es bei ähnlichen ins Abseits gedrängten Existenzen: bei den Ungebildeten, Kuhhirten, Knechten, Mägden, Dorftrotteln, Verrückten und Kindern, die ihre Worte zudem oft noch stotterten, stammelten, lallten oder schrien. Doch diese gesellschaftlichen Randbewohner "sprachen noch mit dem Herzen", wie Certeau meint. Sie äußerten sich dank einer funktionierenden Harmonie mit dem Sein in einer unbeschädigten Sprache.

    "Diese 'Weisen' suchen die 'Kleinen' auf, um zu hören, wer noch spricht... Während die 'Gebildeten' die wissenschaftlichen Oasen bilden, von denen aus sich eine Weltbühne neu aufbauen lässt, bezeugen diese zu den 'Barbaren' konvertierten Intellektuellen die Verstörung ihres Wissens angesichts des Unglücks, das ein ganzes Referenzsystem befallen hat."

    Mystisch - das war genau genommen eine neue, aus dem Dunkel herauswachsende Sprechweise: das rhetorische und logische Ausprobieren einer neuen Artikulation. Blaise Pascal schrieb, dass es im Grunde zwei vollkommene, aber parallel operierende Schrift-Sinne gibt, den buchstäblichen und den mystischen.

    Von diesem mystischen, obskuren und geheimnisvollen Anteil der Sprache lebte schon immer und besonders die Poesie, weshalb Mystiker wie Theresa von Ávila, Juan de la Cruz, Angelus Silesius, Jakob Böhme oder Quirinius Kuhlmann noch heute vor allem von Dichtern geschätzt werden. Zählten die meisten dieser Mystiker damals doch selbst zu den Dichtern.

    Der Körper und die Sprache - das waren die den Mystikern verbliebenen autonomen Mittel, um auf diesen gravierenden Verlust eines kollektiv nutzbaren Sinnzusammenhangs zeigen zu können. Die Mystiker begannen, als eine Art Verweisinstrument, die Sprache ihrer Texte aufzulösen, Grammatiken zu missachten, Wörter zu verdrehen und Rechtschreibregeln zu ignorieren.

    "Sie meiden nicht die Barbarei, sie haben keine Skrupel, halb barbarische und selbst ganz barbarische Ausdrücke zu gebrauchen.... Denn dieser Barbarismus drückt die Überlegenheit des Sprechers gegenüber dem System der Sprache aus... Diese Reisen und Ekstasen außerhalb der überkommenen Bedeutung... liefern dem Verstand kein mentales Objekt: sie bringen den Geist in Bewegung, indem sie ihm seine Objekte wegnehmen."

    Zudem ging es den Mystikern darum, einen neuen sozialen Raum zu schaffen, ihn zu
    "re-formieren", wie Certeau schreibt. Dieser fand sich nicht nur in Klöstern oder Orden, in die sich die Mystiker zurückzogen, sondern vor allem entdeckten sie ihn im befreiten Raum der Sprache selbst.

    Der Preis, den die Mystiker für die Schaffung dieses utopischen Raumes zahlten - für ihren Kampf mit den Mitteln der untergehenden Welt um deren mögliche Zukunft, wie Michel Certeau es formuliert - dieser Preis war hoch. Denn noch immer stehen die Mystiker verbannt und weitestgehend stimmlos in der dunklen Ecken einer lauthals lärmenden modernen Gesellschaft.

    Nicht zufällig widmete der 1925 geborene Franzose Michel de Certeau sein Buch "Mystische Fabel" diesen Nomaden, Wandernden und Querdenkern. Denn galt er doch selbst in der modernen Wissenschaft als ein solcher. Certeau war nicht nur Jesuit, Theologe und Historiker. Er war auch mit Lacan befreundet und in der Psychoananlyse bewandert. Die Pariser Unruhen von 1968 analysierte er von einem kultursemiotischen Ansatz her, was ihn ab da zu einem gefragten öffentlichen Intellektuellen machte.

    Auf Deutsch erschien Certeau erstmals 1988, als der aufmerksame Merve Verlag dessen wichtiges Buch "Kunst des Handelns" herausgab. Auch hier geht es um Widerstand und Selbstbehauptung. Welche Möglichkeiten zum Handeln bleiben Konsumenten und Verbrauchern, die von den Produzenten abhängig gemacht zu einer angeblichen Passivität verurteilt sind, fragt Certeau. Als Antwort führt er vor, wie sich das Konsumverhalten in ein geheimes und unsichtbares Aktivverhalten, zu einer anderen Art von Produktion umformulieren lässt. Und er beschreibt, wie seit Jahrhunderten erfolgreich und weltweit im Alltäglichen verankerten Kunstfertigkeiten, operative Strategien und Taktiken dafür genutzt werden.

    Im Jahr 1986, noch bevor er einen geplanten zweiten Band der "Mystischen Fabel" fertig stellen konnte, verstarb Michel de Certeau leider viel zu früh.

    Michel de Certeau : "Mystische Fabel (16. bis 17. Jahrhundert)". Aus dem Französischen von Michael Lauble, mit einem Nachwort von Daniel Bogner, Suhrkamp Verlag, Berlin, 542 Seiten, 32 Euro.