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Aus dem Gedächtnis verschwunden

Fast 500 Jahre lang war Thessaloniki eine jüdische Metropole. Bis zum Jahr 1941, als die deutsche Wehrmacht die Stadt besetzte und fast die gesamte jüdische Gemeinde in deutsche KZs deportierte. Auch der jüdische Friedhof wurde zerstört. Bis heute fordert die jüdische Gemeinde eine Entschädigung. Doch auch die Stadt tut sich schwer mit der Erinnerung.

Von Simone Böcker | 24.09.2010
    Rena Molho steht an einer Kreuzung mitten im Zentrum von Thessaloniki. Durch die breiten Boulevards fließt der Verkehr durch das ehemals jüdisch geprägte Herz der Stadt. Die Historikerin, eine kleine energische Frau Ende 50, hat in etlichen Publikationen die jüdische Geschichte ihrer Heimatstadt dokumentiert. Besonders am Herzen liegt ihr der Friedhof, der sich einst außerhalb der ehemaligen Stadtmauern befand, erzählt Rena Molho. Sie zeigt in Richtung Osten, wo er einmal gelegen hat. Denn von ihm, wie insgesamt von der jüdischen Vergangenheit, ist heute nichts mehr zu sehen.

    "Dort befindet sich eine vertikale Straße, die in der Altstadt beginnt und bis hinunter zum Meer verläuft. Das war die Stadtgrenze und da endete die Stadtmauer. 1869 wurde die Stadtmauer abgerissen, und damit waren plötzlich alle Friedhöfe, die außerhalb angelegen wurden, um die Stadt nicht zu kontaminieren, innerhalb der Stadt. Das ist die Ursache des Problems."

    Zum Problem wurde die attraktive Lage des Friedhofgeländes, das mit dem Wachstum der Stadt plötzlich in deren Zentrum gerückt war. Noch zu osmanischen Zeiten wurden mit der jüdischen Gemeinde zähe Verhandlungen geführt, um den Friedhof zu verkleinern. Die deutsche Besatzung der Stadt 1941 lieferte den griechischen Behörden schließlich neue Perspektiven.

    "Die offizielle Version der Geschichte ist, dass die Deutschen den Friedhof zerstört haben. Aber das stimmt nicht. Man hat die Deutschen benutzt, die deutschen und griechischen Behörden haben sich gegenseitig einen Dienst erwiesen."

    Die Initiative zur Aneignung des Friedhofsgeländes kam nicht von den deutschen Besatzern, sondern von der griechischen Stadtverwaltung. Der deutsche Kriegsverwaltungsrat Max Merten hatte der Zerstörung zugestimmt in der Hoffnung, sich dadurch die Unterstützung der griechischen Bevölkerung zu sichern. Am 6. Dezember 1942 wurde das Areal innerhalb kürzester Zeit umgepflügt und geplündert.

    "Die Deutschen haben mit den Grabsteinen ein Schwimmbad gebaut. Aber auch Griechen haben die Grabsteine genommen, um Straßen zu bauen oder Gehwege und Häuser. Kürzlich habe ich ein modernes Hotel in Halkidiki entdeckt, dessen Bar mit jüdischen Grabsteinen dekoriert war- als ein exotisches Accessoire."

    An der Stelle des Friedhofs entstand die Aristotelion-Universität - die größte in Griechenland. Dort erinnert bis heute keine Gedenktafel an die Vergangenheit des Geländes. Anastasios Manfos, Dekan der Universität von Thessaloniki:

    "In Griechenland stößt man überall unter der Erde auf etwas Altes. Sollen wir deswegen überall Schilder aufstellen? Warum soll diese Sensibilität nur für den jüdischen Friedhof gelten und nicht für die übrigen Funde in Thessaloniki? Die Universität wird erst dann eine Gedenktafel aufstellen, wenn die ganze Sache vor Gericht geklärt ist."

    Für Rena Molho ist diese Haltung symptomatisch für den Umgang mit der Stadtgeschichte in Thessaloniki.

    "Die Staatspolitik in Griechenland lautet: Über alles, was Griechen inkriminieren könnte, wird ein Mantel des Schweigens gelegt! Wenn eine Plakette an der Universität hinge, dann wäre das ein Bekenntnis, dass Griechen beteiligt waren. Sie müssten die ganze Geschichte erzählen und zugeben, dass sie die Zerstörung ausgeführt haben."

    So wird lieber geschwiegen. Erst 1997 wurde in Thessaloniki - einer Stadt, die 97 Prozent ihrer jüdischen Bevölkerung verlor - ein Holocaust-Denkmal aufgestellt. Das reiche kulturelle jüdische Erbe - es wir bis heute ignoriert, beklagt Rena Molho. Die jüdische Gemeinde, die heute nur noch aus circa 1000 Menschen besteht, hofft nicht mehr auf eine Entschädigung, aber sie pocht auf Anerkennung. Denn jetzt droht das, was Rena Molho "Mnemozid" nennt: die Auslöschung der Erinnerung.

    "Griechenland hat als letztes europäisches Land einen offiziellen Gedenkfeiertag für den Holocaust eingeführt. Warum? Liegt das an einem schlechten Gewissen? Ein Grund ist, dass viele der Kollaborateure noch immer leben. Ihnen geht es gut und es ist ein sensibles Thema, aufzudecken, dass sie sich an den Juden bereichert haben."

    Programmtipp

    Am morgigen Samstag, 25.9.2010, widmet sich die Sendung "Gesichter Europas" dem Thema: Stadt der vielen Erinnerungen: Thessaloniki war ein Schmelztigel.