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Aus dem Leben eines sozialistischen Realisten

Der 1986 gestorbene Valentin Katajew war einer der bedeutendsten und offiziell anerkannten Vertreter der Sowjetliteratur. 1897 in Odessa geboren, begann er seine literarische Laufbahn noch vor der Revolution als Schüler des späteren Emigranten und Nobelpreisträgers Ivan Bunin. In den 20er Jahren gehörte er zum Kreis der wichtigsten revolutionären Avantgardeautoren, entwickelte sich dann aber zum erfolgreichen Klassiker des Sozialistischen Realismus. Seine große Begabung zeigt sich auch in seinem populären Jugendroman "Es blinkt ein einsam Segel" über die Revolutionsereignisse von 1905, wurde aber zunehmend durch seine Anpassung an die herrschende Parteilinie und die gängigen Geschichtsklischees beeinträchtigt. Auch als einflussreicher Literaturfunktionär verhielt er sich widersprüchlich und opportunistisch und wurde deshalb im literarischen Milieu der Nachstalinzeit von vielen mit Misstrauen betrachtet.

Von Karla Hielscher | 19.05.2005
    Katajews literarisches Spätwerk jedoch ist ein beeindruckender Beweis für die innere Befreiung und originelle künstlerische Entfaltung dieses Schriftstellers. Mit fast 70 Jahren nämlich begann er sich in einer ganz neuen, experimentellen Schreibweise, die er provozierend "Mauvismus" - von französich mauvais/schlecht - nannte, mit seiner Zeit, der Geschichte und seinem eigenen Leben auseinanderzusetzen. Er erfand eine Erzählstruktur, mit der er völlig frei von allen ideologischen und ästhetischen Rücksichten, extrem subjektiv, das menschlichen Leben in seinem Reichtum und seiner Vergänglichkeit zur Sprache bringen, in Sprache verwandeln konnte. In die Reihe dieser im weitesten Sinne autobiographischen Prosa gehört auch das 1967/68 entstandene Buch "Kubik", das Swetlana Geier uns gerade auf deutsch zugänglich gemacht hat.

    Erzählstoff ist eine bunte Vielfalt von autobiographischem Material: zauberhafte Kindheitserinnerungen aus Odessa, erschütternde Schlaglichter aus beiden Weltkriegen, leuchtende Eindrücke von Reisen in die verführerische Luxuswelt des Westens, nach Paris oder Monte Carlo, das Erlebnis einer orthodoxen Taufzeremonie in Constanza am Schwarzen Meer, der Besuch der Wartburg, des Bachhauses in Eisenach, der Thomaskirche in Leipzig und vieles andere.

    Dabei handelt es sich nicht etwa um Reiseskizzen oder wahrheitsgetreue Memoiren. Nein, der Autor macht hier sein eigenes Leben, seine Träume, Gefühle, seine literarischen Vorbilder zum einzigen Ausgangspunkt des Nachdenkens und Staunens über die Welt, und spinnt daraus in einer fragmentarisch assoziativen Erzählweise poetische Geschichten. In einem alle Gattungsgrenzen sprengenden Spiel der Phantasie, allein dem kaleidoskopartigen Mechanismus der Erinnerung folgend, sind Zeiten und Räume frei verfügbar, fließen die Identitäten des Erzähler-Ichs und der Figuren ineinander über.

    Der Titel Kubik deutet es an. Kubik: das ist ein kleiner Würfel "mit sechs Flächen in den drei Dimensionen von Raum und Zeit"; Kubik ist der winzige Plexiglaskubus des Aufsatzes der Spiegelreflexkamera, die mit ihren Magnesiumexplosionen einzelne Gegenstände und Lebensmomente der Zeit und dem Raum zu entreißen und für die Ewigkeit zu bannen vermag, eine Laterna magica; und schließlich ist Kubik der Name eines kleinen Hundes, der durch den Erzählfluss vagabundiert. Jede Figur, jedes Ding kann eine überbordende Flut von Erinnerungen, Vorstellungen, Überlegungen in Gang setzen. Dabei werden auf virtuose Weise Motive und Muster der Weltliteratur - Dostojewskij und Tschechow, und immer wieder die großen Verbannten Ovid, Puschkin, Mandelstam - ins Textgewebe eingearbeitet. Nachwort und Anmerkungen der Übersetzerin helfen all dies zu verstehen.

    Die Magie des Wortes ist Auslöser immer neuer Assoziationsketten. Wie in der reizenden Kindheitserinnerung vom Beginn des Buches, wo es die geheimnisvollen Buchstaben O und W sind, die der kleine Junge mehrfach an den Mauern Odessas entdeckt hat und die ihn auf das gefährlich faszinierende Treiben einer Verbrecherbande hinweisen. Die Buchstaben evozieren Szenen einer ersten verlegenen Kinderliebe, und erst als Erwachsener erfährt er, dass es sich um die Abkürzung für "Odessaer Wasserleitung" handelt. Aus Wunschträumen oder Erinnerungsfetzen entfalten sich fiktive Sujets. So etwa die Geschichte um die jahrelangen heimlichen Rendezvous des Monsieur ehemaliger Junge mit seiner Pariser Geliebten, eine "Erzählung im Stil von Maupassant" wie der Autor sie nennt.

    Der poetische Gedanke, die Vorstellungskraft hat die Macht - wie Katajew mit Mandelstam argumentiert - "Metaphern in Gegenstände, einen lieben Körper, ein Ding zu verwandeln". Das Wort haftet nicht am Gegenstand, sondern wählt sich unterschiedliche Dinge zur Wohnstatt.

    So entsteht eine leichte, schwebende Erinnerungsprosa, die den Leser immer aufs neue verzaubert mit der Plastizität und Schwerelosigkeit ihrer Bilder. So etwa dem unendlich zarten, zerbrechlichen Bildsymbol des von den Kindern aus Seidenpapier zusammengeklebten Montgolfiere, der durch die Flamme eines in Brennspiritus getränkten Wattebäuschchens sacht in die Höhe getragen wird, wobei das Papier jeden Moment Feuer fangen kann. Das Bild taucht wieder auf für eine Pariser Mainacht, in der die engen Straßen des Montmartre wie dünne Kinderarme die "noch faltige weiße Montgolfiere der Sacre Coeur emporhalten".

    Es ist die Kraft des menschlichen Gedächtnisses, mit der Katajew eine lebenssatte, sinnliche Welt der Poesie erschafft, die Tod und Vergessen widersteht.