Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Aus dem leichten Handgelenk heraus

Unter den deutschen Pianisten des 20. Jahrhunderts war und bleibt er einer der Größten: Der 1895 in Lyon geborene Walter Gieseking. Ein perfekter Techniker, der von sich behauptete, so gut wie nie zu üben, und ein Meister-Interpret der Werke Mozarts, Beethovens und der französischen Klaviermusik. Vor 50 Jahren starb er in London.

Von Michael Stegemann | 26.10.2006
    Jeu perlé – das Ideal der französischen Klavierschule: Transparent und differenziert, aus dem leichten Handgelenk heraus, Ton an Ton gereiht wie Perlen auf einer Schnur. In den 1920er bis 1950er Jahren war es freilich ein deutscher Pianist, der diesem Ideal am nächsten kam: Walter Gieseking. Obwohl: ein d e u t s c h e r Pianist...? Gieseking wurde (am 5. November 1895) in Lyon geboren, und auch seine Kindheit verbrachte er überwiegend in Frankreich.

    "Ich habe als kleiner Junge – also, das heißt, im Alter von viereinhalb Jahren – angefangen, Klavier zu spielen, habe dann fast ohne Lehrer gespielt (als meine Eltern in Italien und Frankreich wohnten, besonders an der französischen Riviera längere Zeit), und dann habe ich angefangen, am Konservatorium in Hannover, bei Karl Leimer, zu studieren, und daraus hat sich dann die Konzert-Karriere entwickelt."

    Die Studienjahre bei Karl Leimer in Hannover (von 1911 bis 1916) waren prägend für Giesekings Kern-Repertoire: Bach und Mozart, Schubert und Beethoven, Schumann und Brahms. Bereits mit Zwanzig bringt er an sechs Abenden alle 32 Beethoven-Sonaten zur Aufführung, und bald gilt Gieseking als Meister-Interpret der deutschen Klassik und Romantik, wobei sich sein auch hier glasklares, quasi un-romantisches Spiel deutlich von dem seiner Kollegen Edwin Fischer, Wilhelm Kempff oder Arthur Schnabel unterscheidet.

    Giesekings geradezu erschreckend fehlerlos-virtuoses Klavierspiel ist legendär, zumal er mit einem quasi fotografischen Gedächtnis gesegnet ist und neue Werke in kürzester Zeit (und mühelos) auswendig lernt.

    "... durch Lesen, und durch Analyse, und durch Vergleichen der ähnlichen Stellen. Es ist jedenfalls eine sehr sichere Art, auswendig zu lernen."

    Auch die berühmte »Leimer-Gieseking«-Klaviermethode, die er gemeinsam mit seinem Lehrer entwickelt, basiert auf Konzentrations- und Gedächtnis-Übungen. Mit einer gewissen Arroganz behauptete er, so gut wie nie zu üben...

    "Wer übt, hat’s nötig."

    ... und gab sich auch sonst nicht gerade bescheiden:

    "Als Fünfjähriger entdeckte ich, dass ich lesen und schreiben konnte. Danach brauchte ich nichts mehr zu lernen."

    Seit Anfang der 1920er Jahre war Gieseking ein international gefragter Solist und unternahm Tourneen durch die ganze Welt...

    "In den letzten Jahren bin ich mehrere Male um die ganze Welt geflogen und habe eigentlich auf jedem Kontinent gespielt außer Afrika, und natürlich nicht hinter dem eisernen Vorhang."

    Neben seinen Konzertreisen und seiner Lehrtätigkeit an der Musikhochschule Saarbrücken (seit 1947) entstanden zahlreiche Schallplatten – darunter die erste Gesamtaufnahme der Soloklavierwerke von Mozart: Bis heute eine Referenz, ebenso wie seine Einspielungen der Klaviermusik von Claude Debussy und Maurice Ravel. Dass Walter Gieseking daneben auch ein engagierter Vorkämpfer der Neuen Musik war – unter anderem als Uraufführungs-Pianist für Paul Hindemith, Frank Martin oder Francis Poulenc –, ist hingegen fast vergessen.

    "Die zeitgenössische Musik nimmt das Publikum zu sehr übel. Und auch die Veranstalter sind dagegen, das ist überhaupt ein sehr schwieriges Problem. Ich persönlich bin durchaus nicht dagegen eingestellt, sondern würde mich freuen, neue Sachen zu spielen; aber man begegnet solchem Widerstand."

    Kritiker lobten die Subtilität seines Anschlags, seine perfekte Pedaltechnik und seine Kunst der Dynamik – all das stets im Dienst einer »überlegenen Musikalität«, wie sie ihm etwa Harold C. Schonberg bescheinigte. Am 26. Oktober 1956 ist Walter Gieseking in London gestorben.