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Aus dem Sumpf aus Sprachlosigkeit

Die 1958 in Gotha geborene Kathrin Schmidt, die 2009 für "Du stirbst nicht" den Deutschen Buchpreis erhielt, verarbeitet in diesem Roman den Verlauf ihrer eigenen Krankengeschichte. Für Helene Wesendahl und für die Autorin stellte die Krankheit eine Zäsur dar. Nach einem Aneurysma befinden sich beide in einem "Sumpf aus Sprachlosigkeit". Nun müssen sie nach Wörtern suchen, die ihnen vor der Krankheit wie selbstverständlich zur Verfügung standen.

Kathrin Schmidt: "Finito. Schwamm drüber".Kiepenheuer & Witsch | 22.06.2011
    Lange Zeit war ungewiss, ob es Kathrin Schmidt wieder gelingen würde, literarische Texte zu schreiben. Mit den Romanen "Seebachs schwarze Katzen" und "Königs Kinder" hat sie aus dem Sumpf der Sprachlosigkeit herausgefunden. Inzwischen schreibt sie auch wieder Lyrik. Eindrucksvoll hat sie sich mit dem 2010 erschienenen Band "Blinde Bienen" in einer Gattung zurückgemeldet, in der sie seit ihrem ersten Gedichtband "Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik" von 1987 viel Beachtung fand. Nun legt der Verlag Kiepenheuer & Witsch mit "Finito. Schwamm drüber" einen ersten Erzählungsband der Autorin mit 31 Geschichten vor.

    Kathrin Schmidt: "Am Anfang habe ich kurze Formen deshalb probiert, weil ich dachte, ich wäre zu längeren Formen gar nicht in der Lage. Also ich habe so angefangen, als ich Prosa schrieb, mit so kleinen Stückchen und später hat sich das so ein bisschen verselbstständigt. Ich habe mich öfter durch Ausschreibungen von Preisen oder Stipendien ermutigt gefühlt, so ein Stück zu schreiben. Ich habe zwar nie ein Stipendium dafür bekommen, aber ich habe späterhin, auch wenn Ausschreibungen waren, mir vorgenommen, zu diesem Thema etwas zu schreiben, das aber dann überhaupt nicht eingeschickt. Also, es war einfach so ein Ding, dass ich sehen wollte, kannst Du zu einem vorgegebenen Thema etwas schreiben. Das war so diese Übungsvariante, die ich damals fuhr. [...] Es ist einfach so ein Probieren, Spielen, sehen, was rauskommt."

    Der lakonisch geäußerte Satz: "Probieren, spielen, Sehen, was rauskommt", bekam nach Kathrin Schmidts Krankheit eine andere Bedeutung. Lange war fraglich, ob beim Schreiben überhaupt noch etwas herauskommen würde. Doch spätestens seit dem Erscheinen von "Du stirbst nicht", gab es daran keinen Zweifel mehr. Erstaunlich sicher weiß Kathrin Schmidt die jeweilige sprachliche Form ihrer Texte zu variieren. Barock ist der Stil in dem Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition", dagegen tastend, und die Wörter suchend, in der Prosaarbeit "Du stirbst nicht". Diese beeindruckende erzählerische Vielfalt fällt auch an den 31 Kurzgeschichten auf, die sich in dem neuen Erzählungsband "Finito. Schwamm drüber" finden.

    "Ja, da sind sogar die allerersten Geschichten dabei, die ich überhaupt geschrieben habe. Die erste stammt möglicherweise von 1995, und es sind aber auch ganz neue dabei. Es ist sozusagen, ein Querschnitt durch die kurze Form der letzten 15 Jahre."

    Häufig stehen weibliche Figuren im Zentrum der Geschichten. Sie befinden sich an Wendepunkten ihres Lebens und beschließen, anders leben zu wollen, als bisher. Dabei kann es aber durchaus auch passieren, dass das Leben - wie in der Geschichte "Zwielichte Zeiten" - durch eine zufällige Begegnung aus seiner gewohnten Bahn gerät. Brigitte Barbosa verlebt unbeschwerte Tage in ihrem Eigenheim mit dem dazugehörenden Garten. Mit dem sorgenfreien Dasein ist es vorbei, als sie einem älteren Ehepaar begegnet. Als die beiden Alten in ihr Leben treten, verändert es sich grundlegend. Häufig bleibt einem beim Lesen von Kathrin Schmidts Geschichten das Lachen im Halse stecken oder es stellt sich erst gar nicht ein. In "Brendels Weg nach Molauken" gibt es für Brendel kein Entrinnen aus einem Gewaltexzess, in dem er Opfer und Täter zugleich ist. In dieser Geschichte kommt Komik nicht auf. Doch eigentlich interessieren Kathrin Schmidt die tragischen Momente im Komischen und umgekehrt.

    "Das ist ja sowieso etwas, was ich beim Schreiben immer versuche. Ich versuche ja, das Böse im Guten zu zeigen und das Gute im Bösen, das Lachen im Weinen und das Weinen im Lachen. Das habe ich mir sehr früh eigentlich schon zum Prinzip gemacht. Das geht ja manchmal bis in die Lyrik hinein, dass mich solche Sachen anfallen und dann versuche ich auch, sie auszuformulieren und aufzuschreiben."

    Die meisten Geschichten von Kathrin Schmidt sind fiktiv - auch die mit dem Titel "Frau Ypsi und Herr Lon". In dieser Erzählung wird Frau Ypsis Erinnern durch eine Schnur ausgelöst, die eine Verkäuferin um einen Karton gebunden hat. Als würde es sich um einen Ariadnefaden handeln, kommt es durch die Schnur bei Frau Ypsi zu "eine[r] eigenartige[n] Welle des Erinnerns [...], die sich, nachdem sie sie durchrauscht hatte, in konzentrischen Kreisen fortsetzte." Ganz anders verhält es sich mit der Erzählung "Königsberger Klops", der sehr konkrete Erinnerungen an ihre Urgroßmutter zugrunde liegen.

    "Ich hatte eine Urgroßmutter, die aus Ostpreußen stammte, die hat ganz oft Königsberger Klopse gekocht und ich musste die Königsberger Klopse essen, obwohl ich sie gehasst habe wie die Pest. Das war ein grundlegendes Erlebnis meiner Kindheit, aber nicht etwa meine Urgroßmutter wollte sie mir eintrichtern, sondern das war mein Vater, der meinte, er müsse die Erziehung jetzt so durchziehen, dass dieses Kind diese Klopse isst."

    Der Ausflug in die deutsche Küche beginnt mit einer Beschreibung der Kochkünste von Senta Haberberger.

    "Senta Haberberger hustete ein Loch in die stockende Luft. Sie stopfte es mit kleinen, abgemagerten Reden und einem Rülps. Das Loch in der Luft füllt sich mit Zwiebelstunk und Sauerkotz. Senta Haberberger hat Klops gegessen, in saurer Sahne und Kapern gekocht, die Sauce mit einem Schuss Weißwein wohlig gestreckt. Senta Habersberger hat Geburtstag, sie wird immer ein Jahr älter bleiben als das Jahrhundert, in dem sie zur Schule kam. Auch, dass sie die Schule verließ, liegt langlang zurück. Ein wenig länger noch als der Sprung von der Klopsklippe. Inzwischen ist Senta Habersberger eine große stattliche Frau gewesen und wieder klein geworden."

    Kathrin Schmidt erzählt in "Königsberger Klops" eine über mehrere Generationen reichende Familiengeschichte. Zu unterschiedlichen Zeiten werden in dieser Familie immer wieder Königsberger Klopse aufgetischt. Während Reiche gegründet werden und untergehen, Staaten kommen und wieder verschwinden, ändert sich - abgesehen von zeitbedingten Kleinigkeiten - an dem aus Königsberg stammenden Gericht nichts. Doch während die Geschichte einen guten Magen hat, übergeben sich die jungen Frauen regelmäßig, wenn das Gericht auf den Tisch kommt. Bis zum Erbrechen schlucken sie, was ihnen eigentlich nicht schmeckt. Niemand aber widersetzt sich der ekelerregenden Mahlzeit. Folgsam wird gegessen, was auf den Tisch kommt und so lernt man, dass die "Sprache der Klopse" sauer ist. In dieser nur fünf Seiten langen Geschichte gelingt es Kathrin Schmidt sehr überzeugend, die Königsberger Klopse mit reichlich deutscher Geschichte zu würzen, die einem beim Lesen immer wieder sauer aufstößt.

    "Da meine Urgroßmutter aus Ostpreußen stammt, war dann eben auch die ganze Geschichte von Königsberg aus sehr leicht zu erzählen. Ich habe es mir dann zusammengereimt, wie sich so eine Art, Königsberger Klopse zu essen, eben über das ganze Jahrhundert verändert, bzw. nicht verändert.

    Also diese Geschichte habe ich auch im Dunstkreis der 'Gunnar-Lennefsen-Expedition' geschrieben. Möglicherweise ist sie so 1996 entstanden, war vielleicht die zweite Geschichte, die ich überhaupt geschrieben habe [...] in der ich mich vergewissern wollte, in welchem Ton man das überhaupt erzählen kann und insofern betrachte ich die Geschichte, also vor meinem inneren Auge, als einen Vorläufer der 'Gunnar-Lennefsen-Expedition'."

    In der "Gunnar-Lennefsen-Expedition", ihrem Romandebüt von 1998, erfindet Kathrin Schmidt sehr skurrile und tieftraurige Geschichten, wobei ihr eine Kinoleinwand dazu dient, eine weitverzweigte Familiengeschichte ins Bild zu setzen. Sprachlich schöpft Kathrin Schmidt in diesem Roman aus dem Vollen, wenn sie vom Spaß an der Lust erzählt und sie ihre Protagonisten dabei begleitet, wenn sie sich in Geschichtsräume vorwagen, in denen das Vergessen herrscht. Während der Roman zeitlich weit ausholt, muss die Autorin in den Kurzgeschichten erzählerische Strenge walten lassen. Das gelingt ihr, ohne dass sie dabei der Fantasie Zügel anlegen muss. Offensicht verfügt Kathrin Schmidt über ein schier unerschöpfliches Reservoir an tragisch-komischen und anrührend-melancholischen Geschichten, wobei ihr wenige Sätze genügen, um eine bestimmte Tonlage vorzugeben. In der Geschichte "Ein Tag, ein Knopf ..." genügt ihr dafür nur ein Satz.

    "Wie lange eigentlich schon die Tage in diesem einheitlichen Grün an ihr vorüberzogen, wusste Reni Pizolla gar nicht, als sie beschloss, einen von ihnen beiseitezunehmen, sich ihn vorzunehmen, vorzuknöpfen, ihm die Knöpfe zu öffnen, wirklich goldglänzende Knöpfe, die jeder Uniform Ehre machten, und schließlich hatten sich die Tage nicht auf ihren Befehl zusammengetan zu einer einzigen großen Armee von Tagen, immergrün, in ununterbrochenem Stechschritt, dass sie sich nicht besonders schuldig fühlen musste, wenn sie einen von ihnen aus der Truppe heraus verführte, aus dem Tritt brachte, ihm vielleicht einfach nur etwas anderes, Andersfarbiges anziehen wollte danach, wenn sie fertig geworden ist mit ihm."

    Mit Kathrin Schmidts neuem Erzählungsband "Finito. Schwamm drüber" ist man schnell "fertig", fast so schnell, wie Reni Pizolla mit den einzelnen Tagen, die sie sich zunächst vornimmt, um sie dann aufzuknöpfen. Ein vergleichbares Verfahren wendet Kathrin Schmidt an, wenn sie sich in ihren Erzählungen Lebensgeschichten vorknöpft. Die hinterlassen besonders dann einen nachhaltigen Eindruck, wenn sie Protagonisten begleitet, die bei ihrem alltäglichen Tun aus dem Tritt geraten. Wenn die Figuren das Gleichgewicht verlieren, dann schaut Kathrin Schmidt hin und sehr genau hält sie fest, was ihre Figuren bewegt und wovon sie bewegt werden.

    Kathrin Schmidt: "Finito. Schwamm drüber". Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 238 Seiten, 17,95 Euro.