Mittwoch, 17. April 2024

Archiv


Aus dem wahren Leben

Als im November 2005 wochenlang die Pariser Vorstädte brannten, blickte Europa ungläubig auf das Ausmaß von Gewalt. Sämtliche Integrationsmodelle schienen gescheitert. Nun lenkt ein Film erneut die Aufmerksamkeit auf das alltägliche zähe Ringen um Integration und Bildung vor Ort. Laurent Cantet hat den autobiografischen Roman eines Lehrers als Spielfilm mit vielen dokumentarischen Elementen gedreht.

Von Josef Schnelle | 15.01.2009
    "Gut, gut gut. He! Ruhe jetzt. Du da. Mach nicht so´n Wirbel. Als erstes nimmst du bitte die Kapuze ab. Ihr beiden dahinten. Einer kommt nach vorne. Hier vorne ist noch ein Platz frei." – "Das darf nicht wahr sein. Da ist auch noch n Platz frei."

    Es ist der Film eines Mannes. Francois Bégaudeau war Lehrer in einem Pariser Problembezirk. Er schrieb einen Roman über ein ganz normales Schuljahr in den Banlieues der französischen Hauptstadt. "Entre les Murs" wurde ein Bestseller und dann schließlich von Laurent Cantet verfilmt – mit Francois Bégaudeau in der Hauptrolle des Lehrers einer Klasse von 13- bis 14-Jährigen mit Migrationshintergrund. Bégaudeau bekam auch fast den ganzen Beifall, als verkündet wurde: die goldene Palme geht endlich mal wieder nach Frankreich an den Film "Die Klasse".

    "Die Klasse" ist ein Film mit vielen Hauptdarstellern und Helden. Er spielt abgesehen von der einführenden Szene ausschließlich in einem Klassenraum und beschreibt eigentlich nur das Geschehen in den Schulstunden des Französischlehrers, der an seinen Schülern oft fast verzweifelt. Sie können sich nicht konzentrieren, protestieren gegen den Konjunktiv und wollen auf den ersten Blick weder für ihre Schulnoten und erst Recht nicht für das Leben lernen. Pädagogischer Eros a la "Der Club der toten Dichter" Fehlanzeige. In dieser Klasse hat schon verloren, wer etwas vorliest. Oder ungewohnte Wörter benutzt.

    "Sie glauben doch nicht etwa, ich sage zu meiner Mutter so etwas wie: es hieß, es sei wäre."

    Natürlich ist "Die Klasse" neben allem anderen auch das Werk eines Regisseurs. Laurent Cantet macht sich aber mit seiner semidokumentarischen Methode fast unsichtbar, doch ohne seine ordnende Hand wäre der Film nur ein hilf- und sprachloser Versuch über die schwindende Rolle der öffentlichen Bildung. In Wahrheit ist "Die Klasse" eben gar kein einfach so abgefilmtes improvisiertes "Cinema Verité", sondern ein gut vorbereitetes Sozialporträt. Die Schüler spielen eben nicht einfach sich selbst, sondern sie haben in Workshops Figuren entwickelt, die mit ihrem Leben zwar eine Menge zu tun haben, aber durchaus filmische Abstraktionen sind. Lustvoll spiegeln sie sich selbst in Kunstfiguren. Das macht einen großen Teil des Vergnügens aus, das man mit diesem Film haben kann. So wirkt er zwar authentisch - fast wie eine Dokumentation, aber auch spannend und konzise wie ein Spielfilm. Der Film hat natürlich einen guten Regisseur, der zu recht preisgekrönt wurde. Er löst die Szenen – alles spielt wie gesagt in einem engen Raum – "Entre les Murs" wie der französische Originaltitel lautet – nach den Standards eines Spielfilms auf. Das geht nur, wenn viele Kameras im Einsatz sind, und alle Beteiligten wissen, was sie tun. Das Authentische in "Die Klasse" entsteht also gerade aus der Künstlichkeit. Irgendwann kommt heraus, dass manch einer doch etwas liest, zu Hause und sei es nur um der großen Schwester eins auszuwischen.

    " Doch da gibt´s "Der Staat", das Buch "Der Staat. – Du meinst von Platon. Und welche Fragen stellt Platon?. - Über alles. Die Liebe, die Religion und Gott und die Leute: über alles. – Schön dass du das gelesen hast. – Ja ich weiß: es ist kein Buch für Schlampen."

    Als Film nur über den Schulalltag wäre "Die Klasse" natürlich einigermaßen banal, auch wenn es nicht genug Filme darüber geben kann. Im Mikrokosmos der Klasse beschreibt der Film aber natürlich die Bruchstellen einer Gesellschaft, die ihre Widersprüche und Veränderungen noch gar nicht verstanden hat. Die Migrationskinder und auch ihre Spiele mit der Sprache sind nicht der Rand sondern die Mitte der Gesellschaft. Ein wichtiges Thema von Laurent Cantets Film ist die Sprache. Was sie ist, was bleibt, wohin das alles geht. Verschwindet, was nicht verschwinden soll? Gewinnt neue Bedeutung, was keiner versteht? Ist Integration nur ein Wort oder brauchen wir jede einzelne Subkultur für das Patchwork unserer Zukunft? Es ist wahr, dass dieser Film mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Aber man wird ja auch im Kino oder nach dem Kino - ein bisschen nachdenken dürfen.