Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Aus der deutschen Gefühlswelt

Walter Kempowski ist ein Meister der Erinnerung, die er als detailgetreues Bild und gesprochene Sprache wieder vor uns erstehen lässt. Und er beweist in seinem neuen Roman "Alles umsonst" auch, dass er Atmosphäre, Handlungsstränge und Personenzeichnung in einen Erzählfluss bringen kann, ohne in eine triviale Dramaturgie abzugleiten.

Von Werner Köhne | 05.02.2007
    Walter Kempowski verfügt über ein phänomenales Gedächtnis. In Zeiten, in denen junge Autoren darauf aus sind, Familienepen zu zelebrieren, als wollten sie in den großen Leib der Sippe zurückkehren, kann der inzwischen 77-jährige Autor aus einem selbst erlebten und dazu gut recherchierten Fundus der Vergangenheit schöpfen. Wie seine voluminöse Sammlung "Echolot "beweist, besitzt er den langen Atem, Geschichte zusammenzutragen ohne sie so ordentlich totzustellen, wie es nach Meinung Nietzsches zuweilen die Historiker tun. Auch die postmodern überhitzten historischen Romane - ob allegorisch endzeitgestimmt, parfümiert oder im Ambiente von "Schlafes Bruder" sind seine Sache nicht. Im schroffen, manchmal allerdings auch leutseligen Ton findet er den Weg zu Geschichten, die so real scheinen, dass sie nicht allzuviel Fiktion vertragen. All die Reden von erfundener Wahrheit und poetischer Verwandlung prallen an seinem Gesamtwerk irgendwie ab. Dafür findet man in seinen Romanen Indikatoren gelebter Kultur wie bei kaum sonst einen anderen deutschsprachigen Schriftsteller.

    Auch in seinem neuen Roman trifft der Leser auf eine Anzahl von Sprechweisen, Schlagertexten und Zitaten, die aus den kulturellen Eingeweiden der Deutschen stammen - zumindest was die Zeit bis in die 50er Jahre hinein betrifft, als das symbolische Leben der meisten Deutschen noch im Banne der Kriegs- und Vorkriegszeit stand. Wer erfahren will, wie die Zackzack-Sinnen und -Gefühlswelt der Deutschen funktionierte, sollte diesen Roman lesen.

    Wenn auch der eigentliche Stoff ein anderer ist: Es geht um die letzten Tage auf einem Gutshof in Ostpreußen, bevor die russische Armee Ende des Zweiten Weltkrieges vorrückte und die Bewohner vertrieb. Nicht eigentlich die Vertreibung selbst, sondern die Lage vorher, bildet den Kern der Handlung. Für die einen ist die Situation schon angespannt, und sie treffen Vorbereitungen zur Flucht, für die anderen zeigt sich die bald untergehende Welt noch in den alten Farben, Gerüchen und Soziogrammen. Letzteres trifft vor allem auf die Gutsherrin Katharina zu, die ihren Ehemann in Offiziersdiensten in Italien weiß und als ermattetes Kind der späten Romantik weltfremd durch das sich auflösende Szenario läuft.

    Eine andere Figur der alten Welt gibt das Tantchen, das zwischen Gutmütigkeit und Misstrauen den Laden zusammenhält und in jede Doku-Soap-Serie über das echte Leben im 19. Jahrhundert passen würde. Sie passt auch auf den leicht verträumten Sohn Katharinas auf, und wird schließlich allein mit diesem die Flucht antreten. Vorher aber tauchen wir tief ein in den merkwürdig fernen und doch vertrauten Charme der verlorenen Zeit. Sie wird vom Erzähler zu Beginn in beeindruckender Sinnlichkeit hervorgerufen.

    "Hinter einer alten Mauer aus Feldsteinen lag das Gutshaus, das früher einmal gelb gestrichen war. Nun war es gänzlich von Efeu bewachsen Im Sommer hausten darin die Stare. Jetzt im Winter klapperte es mit seinen Dachziegeln. Ein eisiger Wind fegte kleinkörnigen Schnee von weither über den Acker gegen den Gutshof.

    An der brüchigen Feldsteinmauer lehnten ausrangierte rostige Ackergeräte und in der großen schwarzen Eiche baumelten Sensen und Rechen. Das Hoftor war vor längerer Zeit von einem Erntewagen angefahren worden, es hing seither schief in den Angeln."

    Das ist keine cinematographisch aufgepeppte Vergangenheit, das ist zurückgeholtes Leben. Kempowski ist ein Meister der Erinnerung , die er als detailgetreues Bild und gesprochene Sprache wieder vor uns erstehen lässt. Und er beweist in dieser Geschichte auch, dass er Atmosphäre, Handlungsstränge und Personenzeichnung in einen Erzählfluss bringen kann, ohne in eine triviale Dramaturgie abzugleiten. Die Personen sind in ihren Grundverhalten mehrschichtig . Das trifft selbst für den Naziblockwart Drykalski zu, der die schöne Gutsherrin Katharina ins KZ bringt, nachdem diese einem Juden Unterschlupf gewährt hatte. Am Ende verhilft er ausgerechnet ihrem Sohn zur rettenden Schiffsüberfahrt, während er seinen Platz räumt und zurückbleibt.

    Aber all diese narrativen Vermögen können nicht darüber hinwegtäuschen, wie wertend der Erzähler in den eigentlichen Binnenraum der Geschichte eingreift. Man mag durchaus verstehen, dass e auf psychologische Tiefenarbeit bei der Personenzeichnung verzichtet. Doch allzu oft gewinnt man den Eindruck, der Autor belasse es nicht bei der Abbildung altpreußischen Rollenverhaltens, sondern mache sich mit diesem gemein.

    "Katharina sah sich den Mann an. Besuch zu dieser Tageszeit Und auch der Mann betrachtete sie nicht ohne Interesse. Donnerwetter ! Was sich so alles auf dem Lande versteckt. Diese Frau gehörte doch von Rechts wegen sonstwohin. Berlin! München! Wien!."

    Oder an anderer Stelle:

    "Eine Schale mit Äpfeln wurde auf den Tisch gestellt, und auch davon durfte der Gast sich nehmen.

    'Danket dem Herrn , denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich... ' wurde gesagt. Ja, dem war aus vollem Herzen zuzustimmen."

    Es ist nicht klar, ob diese Passagen Personenrede, Sprechen im Modus eines "man sagt" oder doch affirmierende Beigabe des Autors widerspiegeln. Zu vertrauensselig, schnoddrig, manchmal auch hineinkommentierend verfährt die Darstellung – und nährt zuletzt den Verdacht, der Autor ziehe unterhalb des Geschehens eine Schicht aus Nostalgie und Ressentiment ein.- was einen in der Anlage gut komponierten Roman in der Wirkung leider einschränkt.