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Aus der Krise herausgeschrieben

Im Mittelpunkt des Romans "Schöne Verhältnisse" steht der fünfjährige Patrick Melrose, der von seinem Vater sadistisch gequält und sexuell missbraucht wird. Als der Roman in England erschien, wurde Autor Eward St. Aubyn gefragt, ob Patrick sein literarisches Alter Ego sei. Sein uneingeschränktes Ja sorgte für Schlagzeilen, denn die St. Aubyns sind keine gewöhnliche englische Durchschnittsfamilie, sondern ein Adelsclan, dem seit dem Mittelalter halb Cornwall gehört.

Von Beate Berger | 07.03.2007
    "Ich wollte immer schon schreiben. Leider ist unnötigerweise ein Konflikt entstanden zwischen meinem eigenen Schreibwunsch und dem literaturkritischen Blick auf die Literatur von anderen Leuten. Das war vollkommene Energieverschwendung. Es wäre viel besser gewesen, etwas anderes zu studieren und selbst zu schreiben."

    In der Rückschau ist man ja meistens klüger: Die Erhabenheit des Oxfordschen Literaturkanons war für Edward St. Aubyn eher abträglich, sie schüchterte ihn als jungen Studenten ein und hinderte ihn am eigenen Schreiben. Dass es jedoch nicht allein der anspruchsvolle Lehrplan war, der ihn von einem vernünftigen Studium abhielt, gibt er heute freimütig zu:

    "Ich war 16, als ich begann, Heroin zu spritzen. Davor hatte ich schon einige andere harte Drogen ausprobiert. Bis zu meinem 28. Lebensjahr hat das Heroin mein ganzes Leben beherrscht, also ganze zwölf Jahre."

    Über seine selbstzerstörerische Vergangenheit spricht der zweifache Familienvater überraschend wohltemperiert, so als würde er sich in einem distinguierten Herrenclub im Londoner West End über Börsenkurse unterhalten; eigentlich unvorstellbar, dass dieser Mann einmal ein Leben als Junkie geführt hat.

    Irritierend sind die Modulationsschwankungen seiner tiefen Stimme. Mal parliert er forsch im Kammerton der englischen Upper Class, mal scheint er beim Sprechen plötzlich in sich hineinzuhorchen, setzt sorgsam und fast unhörbar leise ein Wort an das andere. Sehr deutlich wird er allerdings, als er erzählt, was ihn von der Nadel brachte:

    "Es ist schwer, über diese Dinge zu reden, ohne zu melodramatisch zu klingen. Als ich 'Never Mind' geschrieben habe, hatte ich einen Vertrag mit mir selbst abgeschlossen, dass ich entweder meinen ersten Roman zu Ende bringen oder mich tatsächlich umbringen würde."

    Das Buch, mit dem sich Edward St. Aubyn in ein neues drogenfreies Leben hineinschrieb, heißt im englischen Original "Never Mind”, Frei übersetzt könnte das heiße: "Ganz egal" oder "Das macht nichts" oder "Schon gut". St. Aubyns deutscher Verlag hat sich für einen anderen, ebenfalls treffend mehrdeutigen Titel entschieden: "Schöne Verhältnisse".

    Die Übersetzung des Romans stammt von Ingo Herzke. Sie ist hervorragend, denn sie wird der Stilversessenheit von Edward St. Aubyn gerecht. Die präzise, elegante Sprache steht im krassen Kontrast zum finsteren Sujet des Romans.

    Im Mittelpunkt steht der fünfjährige Patrick Melrose, der von seinem Vater sadistisch gequält und sexuell missbraucht wird. Als der Roman in England erschien, wurde Eward St. Aubyn von einem Journalisten gefragt, ob Patrick sein literarisches Alter Ego sei. Die Antwort, ein uneingeschränktes Ja, sorgte für Schlagzeilen in England, denn die St. Aubyns sind keine gewöhnliche englische Durchschnittsfamilie, sondern ein Adelsclan, dem seit dem Mittelalter halb Cornwall gehört.

    Auf Fragen nach seiner Herkunft reagiert Edward St. Aubyn gereizt:

    "Ich gehe davon aus, dass der Anlass dieses Interviews meine Bücher sind .Es hat in England sehr lange gedauert, bis man mich als Schriftsteller wahrgenommen hat. Stattdessen wurde viel Klatsch verbreitet über meine Herkunft und über meine Heroinabhängigkeit. Es wäre schön, wenn ich im Ausland ohne diesen Ballast an den Start gehen könnte."

    Standesdenken liegt Edward St. Aubyn fern, aber die Präzision, mit der er das System der feinen Gesellschaft torpediert, verrät, wie vertraut es ihm ist. In "Schöne Verhältnisse" demaskiert er die Dominanzgelüste eines Parvenues mit wenigen Sätzen:

    "Manchmal waren es die großen Festivals der Privilegien, manchmal die Speichelleckerei und der Neid der anderen, die einen in dem Gefühl bestärkten, an der Spitze zu stehen. Bisweilen erfüllte auch die Verführung eines hübschen Mädchens diesen wichtigen Zweck, und dann wieder reichten schon die eleganten Manschettenknöpfe."

    Edward St. Aubyn ist ein Meister der subtilen ironischen Distanznahme. Alles Elitäre ist ihm suspekt:

    "Snobismus ist eine Spielart der Grausamkeit, es ist sozusagen das volkstümliche Gesicht der Grausamkeit. Es ist die Voraussetzung, um auf andere herabzusehen, sie als nicht gleichrangig zu behandeln. Und genau darum geht es ja beim Snobismus: andere herabzuwürdigen und im Voraus schon herabzusetzen. Also, für mich gehört das Ganze zum Hoheitsbereich der Grausamkeit."

    Konsequenterweise hat Edward St. Aubyn den Schauplatz seines Romans ins südfranzösische Lacoste verlegt. Dort, am Geburtsort des Marquis de Sade, erlebt der Leser einen Tag im Leben der Familie Melrose - Zeit genug, um in Abgründe der unterschiedlichsten Art zu schauen.

    Die Rahmenhandlung selbst ist rasch erzählt. Eleonor Melrose fährt zum Flughafen, um ein befreundetes Paar vom Flughafen abzuholen. Um in Form zu kommen, genehmigt sie sich schon am frühen Morgen einen ordentlichen Mix aus Alkohol und Aufputschmitteln. Während ihrer Abwesenheit vergeht sich ihr Mann, David Melrose, an seinem kleinen Sohn Patrick. Gegen Abend treffen zwei Paare bei den Melroses zum Dinner ein. Man tafelt und tauscht dabei eine Menge an Belanglosigkeiten und Bosheiten aus, und am Ende geht jeder wieder seiner Wege - ein ganz normaler Tag im Leben der Familie Melrose, einer von vielen Tagen in der Hölle, für den kleinen Patrick.

    Die Erzählperspektive ändert sich im Fortgang des Romans mehrfach. Wie eine schwenkbare Kamera kreist die Erzählerstimme über dem Geschehen und übernimmt reihum die Perspektive der verschiedenen Akteure. Der ältliche Schürzenjäger Nicolas zum Beispiel bereitet seine junge und äußerst unintelligente Freundin Bridget auf den Besuch bei den Melroses mit einem verstörenden Psychogramm vor:

    "Eleanor also - die damals noch nicht trank, bloß sehr schüchtern und nervös war - hatte gerade das Haus in Lacoste gekauft, und sie beschwerte sich bei David, was für eine furchtbare Verschwendung es sei, dass die Feigen einfach vom Baum fielen und auf der Terrasse verrotteten. Am nächsten Tag, als wir alle draußen saßen, fing sie wieder davon an. Ich sah, wie Davids Gesicht kalt wurde. Er streckte die Unterlippe vor - das ist immer ein schlechtes Zeichen, halb brutal und halb eingeschnappt - und sagte: 'Kommt mit.' Es kam mir vor, als müssten wir dem Schuldirektor in sein Büro folgen. Er marschierte mit großen Schritten auf den Feigenbaum zu, Eleanor und ich stolperten hinterher. Als wir hinkamen, sah man überall auf den Steinplatten Feigen verteilt. Manche waren schon alt und zerquetscht, andere waren gerade aufgebrochen, und Wespen tanzten um die Wunde oder knabberten am klebrigen roten Fruchtfleisch. Es war ein riesengroßer Baum, und es lagen viele Feigen am Boden. Und dann tat David etwas höchst Erstaunliches. Er befahl Eleanor, sich auf alle Viere niederzulassen und alle Feigen von der Terrasse zu essen."

    Während sich Vater Melrose unablässig neue Demütigungen und Bosheiten für alle Lebewesen in seiner Umgebung ausdenkt, tröstet sich Eleanor mit Alkohol und Psychopharmaka über die Trostlosigkeit ihrer Ehe hinweg. Als ihr Sohn nach der Vergewaltigung durch den Vater Trost bei ihr suchen will, speist sie ihn mit Plattitüden ab und füllt einen Scheck für ein Kinderhilfswerk aus.

    Die Erinnerung in die Höllen seiner Kindheit und Jugend waren für Edward St. Aubyn so qualvoll, dass er zeitweilig auch psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahm. Das Schreiben selbst, sagt er, sei allerdings keineswegs ein Therapieersatz:

    "Schreiben war keine Therapie, ich hatte schon vorher eine klassische Psychoanalyse hinter mich gebracht. Ich wollte mich allerdings nur bedingt therapieren lassen. Es war mir daran gelegen, so weit stabilisiert zu werden, damit ich schreiben konnte, mehr aber auch nicht. Ich wollte nicht zu sehr glatt gebügelt werden."

    Als Edward St. Aubyn anfing, zu schreiben, tat er das unter Produktionsbedingungen, die heute, knapp zwei Jahrzehnte später, schon fast abenteuerlich klingen.

    "Ich hatte damals noch keinen Computer. Ich setzte die Ausschneide- und Löschfunktionen eines Computers geradezu sprichwörtlich mit einer Schere und Klebstoff um. Der Text wurde getippt, dann habe ich ihn zerschnibbelt und neu zusammengeklebt. Das war sehr, sehr mühsam. Und vor der endgültigen Fassung hat es unzählige Versionen des Texts gegeben."

    Die Zeiten von Schere und Tippex sind längst passé, aber die Vorliebe für das leere weiße Blatt hat sich der Autor bewahrt:

    "Ich beginne immer mit einer handschriftlichen Version des Textes. Ein leeres Blatt eignet sich viel besser, um die Gedanken zu ordnen als ein Computer. Der ist natürlich für die Textverarbeitung viel geeigneter. Schreiben bedeutet für mich sowieso immer: Überarbeiten und Überarbeiten und Überarbeiten."

    Edward St. Aubyn hat mittlerweile sechs Romane veröffentlicht. "Mothers Milk", sein jüngstes Werk, wurde im vergangenen Jahr nach der Nominierung für den Booker-Prize zum Bestseller. Der Erfolg seiner Bücher freue ihn sehr, gibt er zu. Und nicht zuletzt, habe er damit den einzig sinnvollen Auftrag seines Vaters erfüllt.

    "Die gute Seite meines Vaters, nun ich übertreibe, sagen wir: die halbwegs normale Seite meines Vaters war, dass er mich anhielt, meinen Neigungen nachzugehen und meine Begabung unbedingt zu nutzen. Das war ihm äußerst wichtig."

    Die Mutter von Edward St. Aubyn ist demenzkrank und lebt heute in einem Pflegeheim, sein Vater starb im Jahr 1986. Dass der misshandelte Sohn seinen Eltern vergeben konnte, ist ebenso erstaunlich wie berührend:

    "Oh, sie haben mir soviel großartiges Material vermacht. Ich kann ihnen eigentlich nicht genug danken. Unglückliche Menschen machen sich ja selbst viel unglücklicher als andere. Sie können ihr Unglück nie in vollem Umfang auf andere übertragen. Deswegen verdienen die Opfer eigentlich noch mehr Mitgefühl als ihre Opfer."