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Aus der Sicht von Jesus Christus

Der jüngst verstorbene Schweizer Schriftsteller Jürg Amann hat sein letztes Buch über Jesus Christus geschrieben. Er gab dem Werk den Untertitel "Autobiografie Christi". Die Gattungsbezeichnung hat ihre Berechtigung, da Amann den biografischen Anteil den vier Evangelien entnimmt.

Von Bettina Hesse | 05.06.2013
    "Ich, Jesus von Nazareth, bin als Kuckuckskind im Jahr Null zwischen den Jahren vor mir und den Jahren nach mir in Bethlehem geboren."

    Was der Icherzähler wie eine Logelei oder kleine Phantastik vorbringt, ist der Anfang der Autobiografie eines der berühmtesten Heilsbringer der Menschheitsgeschichte: Jesus Christus. Der Begriff Autobiografie scheint hier ein Widerspruch in sich zu sein, denn Autor und Erzähler oder Protagonist sind ja nicht identisch. Dennoch hat die Gattungsbezeichnung eine gewisse Berechtigung, denn Jürg Amann entnimmt den biografischen Anteil der Geschichte den vier Evangelien nach Matthäus, Marcus, Lukas und Johannes als Material für die Figur des Ich-Erzählers. So führt er in 29 kurzen Kapiteln durch eine Erzählung, deren Geschehnisse vermutlich jeder kennt – wenn nicht aus der Schul-Lektüre, dann aus der Ikonografie der abendländischen Kunst.

    Die bekannten Stationen der Heilsgeschichte beginnen mit der Schwangerschaft Marias, noch bevor Josef sie in sein Haus geholt hat, mit der Verkündigung und Geburt Christi, und der Flucht nach Ägypten vor Herodes. Bald – erzählt Jesus –, ist er als Zwölfjähriger in Jerusalem zurückgeblieben, um die Gelehrten im Tempel zu hören und zu befragen, wenig später wirkt er seine ersten Wunder, sodass Johannis der Täufer erstaunt fragt, warum er sich von ihm taufen lassen will, wo es doch umgekehrt sein müsse. Doch Christus besteht darauf, und während seiner Taufe spricht eine Stimme aus dem Himmel:

    "Dies ist mein viel geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe."

    Der Fortgang der Geschichte mit der Hochzeit von Kanaan, die Wunder, die er in Syrien bewirkt, das Gehen übers Wasser, die Berufung der Apostel als Menschenfischer zeigt sein Hineinwachsen in die sich verdichtende Verantwortung, als Menschensohn die eigene Göttlichkeit zu akzeptieren und schließlich als Opferlamm zu erfüllen.

    "Und die Axt ist den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird geschlagen und ins Feuer geworfen."

    Während Johannes noch den Zorn Gottes beschwört, predigt Jesus denen, die zu ihm strömen, dem Salz der Erde, Güte und Vergebung und legt in der Bergpredigt die ethische Basis für das, was den christlichen Glauben ausmachen soll:

    "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen keinen Widerpart geben sollt. Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, biete ihm auch die linke dar."
    "Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte tragen, und ein fauler Baum kann keine guten Früchte tragen. Darum: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen."


    Bei den Menschenmassen während der Bergpredigt sorgt er für eine wunderbare Brotvermehrung, was seine Bekanntheit mehrt, aber auch den Unmut bei den Gegnern, bis sich die Situation zuspitzt:

    "Da fragten sie mich: Wer bist du denn? Und ich antwortete: Was ich euch sage: der Menschensohn Gottes. Wenn ihr den Menschensohn hören würdet, würdet ihr erkennen, dass ich nichts aus mir selber tue; wie es mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Sie entgegneten mir: Wir sind nicht aus einer Hurerei geboren; wir haben einen Vater."

    Die Episode, auf die bald seine Festnahme folgt, eröffnet die Deutungsmöglichkeit, dass die ‚Vaterlosigkeit‘ Christi, sein Nicht-von-dieser-Welt-Sein zu Unverständnis und Ablehnung seiner Heilsbotschaft führt, und bei seinen Gegnern Verfolgung und Hass, bis zum Wunsch nach Hinrichtung rechtfertigt. Nachdem Jesus, von Judas verraten, dem römischen Statthalter Pilatus überantwortet wird, der keine Schuld an ihm finden kann, lässt dieser das aufgebrachte Volk über den "König der Juden" entscheiden, und sie verlangen: "Kreuzige ihn!" Mit dem Schultern des Kreuzes und Jesus‘ inneren Aufschrei: Vater, warum hast du mich verlassen beendet Amann die Erzählung.

    Würde man das auf die Biografie eines Durchschnittsmenschen herunterbrechen, ließe sich die Erzählung als Vater-Sohn-Konflikt lesen, als die fantastische, leicht überhöhte Geschichte eines jungen Mannes mit messianischen Ambitionen, dessen Leben geprägt ist von der pathologisch engen Beziehung zum Vater. Der nie in Erscheinung tretende, aber allmächtige Vater schickt seinen Sohn auf die Erde, damit er die Menschen erlöse, und liefert ihn am Ende seiner Mission den Pharisäern aus, die ihn für einen Gotteslästerer halten und kreuzigen.

    Es ist äußerst spannend, wie die Annäherung an die bedeutende Figur des Religionsgründers durch Amanns bewährtes poetologisches Verfahren funktioniert: Das Rohmaterial, die Sprache der Evangelisten, ihre Gleichnisse und einfachen, erdverbundenen, zu Sprichwörtern gewordene Bilder sind so tiefsitzend vertraut und wiederholt, dass der Blick auf die ursprüngliche Bedeutung verstellt scheint. Durch Amanns Lesart des Stoffes in der reduzierten Original-Sprache wird dieser Blick neu geschärft. Er entkernt gewissermaßen die Biografie durch seine knappe Sprache auf ihren erzählerischen Grundgehalt und fördert so das Wesentliche zutage. Dabei schafft er eine Nähe zum Icherzähler, die dessen im Wortsinne Menschsein fühlbar macht und das Autobiografische unmittelbar glaubhaft werden lässt.

    Nachsatz: Nun war der Tod schneller.

    Jürg Amann: "Vater, warum hast du mich verlassen? Autobiografie Christi", 111 Seiten, Arche Verlag 2013, 14,95 Euro