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Aus einer anderen Epoche

Heinz Friedrich war unser Zeitgenosse, er leitete bis 1990 den Deutschen Taschenbuch Verlag und amtierte bis 1995 als Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Dennoch macht man eine merkwürdige Erfahrung, wenn man jetzt die Lebenserinnerungen des 2004 gestorbenen langjährigen Verlegers, Rundfunkredakteurs und Kritikers liest: Er verkörpert offenkundig eine andere Epoche.

Von Helmut Böttiger | 05.05.2006
    Es ist dasselbe Gefühl, das Friedrich selbst hatte, als er, 1922 geboren, nach 1945 auf nur wenige Jahre Ältere traf. Da gab es einen Abstand, der größer war als der eigentlich geringe Altersunterschied, da machte sich eine Art Zeitenbruch bemerkbar.

    Mit Heinz Friedrich ist vor allem die Gründung des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv) 1961 und die daran anschließende Erfolgsgeschichte verbunden. Obwohl der Markt für Taschenbücher damals gesättigt schien und man mit dem Taschenbuch eher niedrige Massenware verband, setzte Friedrich auf Originalausgaben und auf Autoren der klassischen Moderne, warb offensiv um "anspruchsvolle" Leser und begann gleich mit dem Paukenschlag einer 45-bändigen Goethe-Gesamtausgabe. Er stieß in eine von den meisten gar nicht erkannte Marktlücke vor, und seine Zauberworte dafür, ungeachtet der natürlich ebenfalls erscheinenden populären Bände, hießen "Bildung" und "Kultur". Das erst schaffte die notwendige Aura.

    Die Erinnerungen Friedrichs führen Szenen aus einer Zeit vor, in der die klassischen Formen der Kultur noch Mittel des gesellschaftlichen Aufstiegs sein konnten. Er wuchs in dem Landstädtchen Roßdorf bei Darmstadt auf und wurde, als Sohn eines kleinen Angestellten der Bahn, noch stark von den Normen des Kaiserreichs, respektive des hessischen Großherzogtums, geprägt. In seinem Elternhaus spielte Kultur keine Rolle.

    Während der früh gestorbene Vater, obwohl "Hindenburgianer", als recht liberal geschildert wird, wähnt die Mutter sofort Unheil, als sich die Leseleidenschaft ihres Sohnes auswächst. Friedrich zitiert leitmotivisch Benns Wort vom "Gegenglück des Geistes", und dieses Glück bildet sich bei ihm, durch wildes, autodidaktisches Lesen, auf durchaus merkwürdige Weise heraus: Völlig unbeeinflusst von modernen Strömungen hat es viel vom hohen, krude gesellschaftliche Bedingungen ignorienden Kunst-Ideal des neunzehnten Jahrhunderts.

    Die Sprache dieser Autobiographie ist unverkennbar davon geprägt. Obwohl Friedrich diverse journalistische Stationen absolvierte und das kulturelle Leben durchaus von der Basis aus wahrnahm, sind seine allgemeineren, ins Philosophische tendierenden Überlegungen von einem für heutige Ohren erstaunlichen Pathos getragen. Es ist ein Pathos der Formulierung, nicht der Gedanken: "Die erdgeschichtlich winzige Zeitspanne menschlicher Tat-Geschichte wird begleitet von der Hybris ihrer tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Erfolge."

    Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist er elf Jahre alt und wächst in den NS-Staat mit einer Haltung hinein, die das Gegebene organisch hinnimmt. Durch einen Darmstädter Theaterautor, zu dem er aufsieht, kommt er mit Ludwig Klages in Berührung, und zusammen mit Nietzsche und Benn nennt auch noch der späte Autobiograph Heinz Friedrich dies als seine wichtigste intellektuelle Erfahrung. Als Gymnasiast versucht er, trotz einiger Irritationen, die er vorsichtig benennt, einen durch Leseabenteuer und Theaterbesuche geprägten Alltag aufrechtzuerhalten: Kultur als Lebensmittel.

    Das großbürgerliche Haus einer Freundin, die mit ihm gegen Ende der Schulzeit, 1939/40, in derselben Theatergruppe spielt, ist das, was ihn am meisten anzieht, und die sanfte, umsichtige Art und Weise, wie ihn die Mutter jener Tochter aus "vornehmen Kreisen" auf noch vorhandene Ungeschicklichkeiten in Formen der Höflichkeit und des Gesprächs hinweist, bleibt nachdrücklich haften. Anfang 1940 macht Friedrich das den Ereignissen geschuldete Notabitur, direkt danach wird er zur Wehrmacht eingezogen.

    Heinz Friedrich versucht in seinen Erinnerungen, diese Erlebnisse so redlich wie möglich zu vergegenwärtigen, und das macht sie zu einer zeitgeschichtlich sehr interessanten Lektüre. Wie nebenbei - es ist nicht unbedingt beabsichtigt - wird deutlich, dass man 1945 nicht einmal im Ansatz von einer "Stunde Null" sprechen konnte. Alles wirkte weiter. Als die Alliierten die deutschen Städte, mitsamt ihren Staatstheatern und Nationalbibliotheken, in Schutt und Asche legen, hat Friedrich große Schwierigkeiten damit, die "Zerstörer als Befreier" zu sehen.

    Seine schweren Verletzungen bei der endgültigen Einnahme Königsbergs durch die sowjetischen Truppen, die Lazarette, die Erfahrung, am Rande des Todes gewesen zu sein - das alles führt ihn zu einer Rede, die er 1947 bei einem Treffen des jungen Stahlberg-Verlags hält und die in ihrer lebensphilosophischen Dringlichkeit charakteristisch ist: "Die junge Generation hat den Anbruch eines neuen geistigen Zeitalters - jenes Zeitalters, das sich durch das Blut, das auf den Guillotinen in Frankreich floss, ankündigte, auf den Schlachtfeldern der ganzen Welt erlebt und erlitten. Und zwar handelt es sich jetzt nicht mehr um die junge Generation in Deutschland, sondern um die in der ganzen Welt!"

    Dieser Gedanke ist Friedrich - und mit ihm vielen aus der Kriegsheimkehrer-Generation - äußerst wichtig: es stellte sich für ihn "ein heute kaum noch nachvollziehbares Gemeinschaftsgefühl zwischen Siegern und Besiegten her". "Das Abendland" durfte nicht so "kläglich untergehen, wie seine Trümmer anzuzeigen schienen". Damit erhellt Friedrich einiges vom Gründungsmythos der Gruppe 47, seine Schilderung ihres ersten Treffens ist sehr beredt.

    Es ging um ein existenzielles Gefühl und weniger um die Analyse, wie es zu diesem Krieg gekommen war, welche Rolle man dabei als Deutscher gespielt hatte. Zwar unterschied sich Friedrich durch seinen emphatisch aufgeladenen Begriff von abendländischer Bildung recht deutlich von der Mehrheit der Gruppe 47, aber er blieb ihr trotz politischer und literarischer Differenzen immer verbunden. Das gemeinsame "Landser"-Erlebnis wirkte viel stärker nach.

    Es ist verblüffend, wie Gruppe 47, Literatur und Landsertum bei Friedrich mit etwas zusammengeht, was er "existentielles Gedankenpathos" nennt: "Seither weiß ich, welche therapeutische Kraft große Gedanken entfalten - und wie wenig das 'kritische Bewusstsein' im Ernstfall hilft." Er zeigt sich nachsichtig bei NS-Mitgliedern und Mittätern, wenn er bei ihnen "geistige Überlegenheit" erkennt, ist fasziniert von Carl Schmitt, den er als Rundfunkredakteur Anfang der fünfziger Jahre häufig zu Wort kommen lässt, und freut sich, wenn das lästige Spruchkammerverfahren wegen NS-Mitgliedschaft gegen einen Musikkritiker, von dem er viel hält, endlich vorbei ist. Dies gehört untrennbar zu seinem Kulturverständnis und seiner Liberalität - und er hat da erstaunliche Gemeinsamkeiten mit einem freischwebenden Kommunisten wie Alfred Andersch, der eine Zeitlang sein Chef beim Rundfunk war und dessen "Liberalität" er rühmt.

    Das Buch bricht leider schon 1954 ab, und man merkt an einigen Stellen, dass der Text nicht mehr endgültig überarbeitet wurde. Aber man ist hier direkt an der Quelle und sieht die vertrackten deutschen Geisteslandschaften. Wer sich dafür interessiert, wie sich das literarische Leben in der frühen Bundesrepublik entwickelte, in welcher Atmosphäre man damals sprach und dachte, der findet hier aufschlussreiches Material.