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Aus Trennungsschmerz destillierte Schönheit

Die Werke der haitianischen Schriftstellerin Kettly Mars gehen mit ihrer Sozialkritik und Sinnlichkeit unter die Haut. So auch "Fado", die atemberaubende Geschichte einer Selbstsuche.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 07.03.2011
    Kettly Mars, 1958 in Port-au-Prince geboren, hat Gedichte, Erzählungen und Romane veröffentlicht, die mit ihrer Sozialkritik und Sinnlichkeit unter die Haut gehen. Gespannt darf man schon jetzt auf ihren im Frühjahr 2011 auf Deutsch erscheinenden Roman "Wilde Zeiten" sein, Innenansichten der Duvalier Diktatur, in denen sich die Protagonistin des Romans über ihre Liebesbeziehungen im Räderwerk der Macht verheddert: Die attraktive Nirva Leroy wird die Geliebte eines einflussreichen Staatssekretärs, den sie um Unterstützung für ihren Ehemann angeht, der wegen seiner kritischen Zeitungsartikel in einem der zahlreichen Kerker Duvaliers schmort.

    In den Romanen "L´heure Hybride", für den Kettly Mars 2006 mit dem Prix Senghor de la Création Littéraire ausgezeichnet wurde und "Fado", der nun in der wunderbaren Übersetzung von Antje Tennstedt bei Litradukt auf Deutsch vorliegt, schreibt die haitianische Schriftstellerin in einer dichten, höchst poetischen Sprache über Liebe und Leidenschaft, und das geht nicht ohne Tabubrüche.

    "Fado" ist die atemberaubende Geschichte einer Selbstsuche, der Selbstsuche der bürgerlichen Anaise, vergleichbar mit der von "Belle Du Jour" in Luis Bunuels gleichnamigem Film.
    Anaise und Léo gehören zur wohlhabenden Oberschicht von Port-au-Prince; sie trennen sich nach gut zehn Jahren Ehe, weil sich Léo der jüngeren Elisabeth zugewandt hat, die ein Kind von ihm erwartet.

    Den Wertvorstellungen ihres bourgeoisen Umfeldes zufolge, hätte sich Anaise mit der Rolle der verlassenen Ehefrau begnügen müssen. Anaise stürzt sich jedoch in ein Doppelleben, bei dem ihre in der Ehe verkümmerte Sinnlichkeit erblüht, was ihr nicht nur hilft, die Trennung zu verkraften, sondern auch zu einem umfassenderen Verständnis von Haiti führt Anaise arbeitet nachts im Bony´s, einem Freudenhaus in der Unterstadt von Port-au- Prince; tagsüber trifft sie sich mit ihrem Ex-Mann Léo, der nunmehr ihr feuriger Liebhaber ist.

    Léo ist verrückt. Er sucht mich ununterbrochen. Ich bin nicht mehr seine Frau und nicht wirklich seine Geliebte. Jetzt können wir jeder auf die Suche nach dem Fremden im anderen gehen. Léo hat Frieda in der Haut von Anaise gefunden. Fridas Schwindel und den Fado.

    "Fado habe ich in einer eigenartigen, von großer Melancholie geprägten Phase meines Lebens geschrieben. Der Fado an sich ist ja schon sehr melancholisch, er handelt vom Weggehen, von Liebe, die zerbrach. Der Fado war die Begleitmusik in jener Zeit, der Fado ist in den Roman eingegangen. Manchmal habe ich beim Schreiben Amália Rodrigues aufgelegt oder Fados von heute, all diese Musik habt mich inspiriert. In dieser Phase habe ich über meinen eigenen Schmerz den Schmerz vieler anderer Frauen entdeckt, ja sogar Schönheit in diesem tiefen Schmerz. Selbst in den schwierigsten Phasen unseres Lebens steckt verborgene Schönheit."

    Diese dunkle, aus melancholischem Trennungsschmerz destillierte Schönheit verleiht dem Roman einen ganz eigentümliches Timbre. Seine Stärke bezieht er aus der Auslotung von Grenzbereichen - Leben und Tod, Tag und Nacht etc. - Etliches bleibt in der Schwebe, ist in Zwischenräumen ansiedelt, wo es sich peu à peu neu konfiguriert. Sexuelle Rollenklischees werden in FADO subtil unterlaufen, hauptsächlich von Frida, diesem Alter Ego von Anaise, von dem man nicht genau weiß, ob es nur eine Fiktion ist oder ob Anaise tatsächlich als Frida in Erscheinung tritt.

    "Ich schreibe über Sexualität, ich habe mich dazu entschlossen, weil ich die Leute gern aus ihrer Bequemlichkeit reißen möchte. Wenn man weiß, welche Bedeutung die Sexualität im Leben eines Menschen hat, gleichsam von Geburt an, ja schon im Mutterleib, frage ich mich, warum sie im Schatten bleiben sollte. Warum nicht über das reden, was uns in unserem tiefsten Innern berührt? Das ist meine Herangehensweise. Über die Sexualität kann ich andere soziale Probleme ansprechen.

    Ich nähere mich häufig einem Thema über die Sexualität, die in Haiti noch ein Tabu Thema ist, das unterschiedlich wahrgenommen wird. Einerseits gibt es die Perspektive der Wohlmeinenden und Anständigen, andererseits die ausschweifende Sexualität gegen Bezahlung. Die Trennungslinie zwischen diesen beiden Welten ist hauchdünn; man kann diese Welten virtuell und nicht unbedingt real erleben und umgekehrt. Meiner Ansicht nach gibt es Prostituierte mit guten Umgangsformen und gutem Gewissen und anständige Frauen, die in der Seele Prostituierte sind. Man muss den Mut aufbringen, sich selbst zu erkunden, um zu sehen, wie man ist und zu seiner Sexualität stehen, damit man sich persönlich weiterentwickeln kann."

    Anaise findet im Bony´s – so heißt das Bordell in der Unterstadt, in dem sie als Frieda in Erscheinung tritt- einen anderen Zugang zu sich und ihrer Sexualität, nachdem sie der
    Bordellbetreiber in die Arbeit eingeführt und zu seiner Hauptfrau gemacht hat.

    Ich bin Bonys Mätresse oder besser gesagt eine seiner Mätressen geworden. Ein Weg, den man hier zu gehen hat. In unserem kleinen Milieu, wo das Fleisch käuflich ist, gibt es einen Lehrmeister und seine Frauen. Der Meister muss seine Frauen ausprobieren. Um sie zu bewerten, kleine Änderungen anzubringen, sie nach dem Geschmack der Kundschaft auszurichten. Bony hat diese Arbeit mit mir gemacht.

    Im Bony´s wird Anaise über den Kontakt mit den Mädchen, die dort arbeiten mit dem sozialen Elend Haitis konfrontiert, das sie bis dahin ignoriert hatte. Mädchen, die wie die völlig entwurzelte Félicia in Port-au-Prince ihre Haut zu Markte tragen.

    Seit sie ihr Land verlassen hat, hat sie weder ihre Mutter noch ihre Geschwister wiedergesehen. Man hat ihr gesagt, dass ihre Familie vom Wirbelsturm Jeanne erfasst worden sei, der die Ile de la Tortue völlig leer gefegt hatte. Sie weiß lediglich, dass Josué vielleicht noch in Jérémie wohnt. Er hatte das kleine Nest am selben Tag wie sie verlassen. Eine schwache Hoffnung, ein sehr zarter Faden, um sich selber irgendwie zu ordnen, um weiterhin zu glauben, dass sie aus einem Bauch hervorgekommen ist, dass sie einmal geliebt wurde.

    Fado lässt sich auch lesen als Parabel eines Haiti, dessen Zukunft bedroht ist, falls es nicht zu tief greifenden und umfassenden Veränderungen kommt. Die Oberschicht setzt sich angesichts der wachsenden Gewalt und Unsicherheit in Port-au-Prince ins Ausland ab, so auch Léo und seine neue Lebensgefährtin Elisabeth. Anaise dagegen bleibt und ist nach dem ungewöhnlichen Trennungsprozess von Léo eine reifere Frau geworden, die sich selbst und ihr Land mit neuen Augen sieht.

    Kurz vor der endgültigen Trennung war Anaise noch von Léo schwanger geworden, dabei wollte sie nie Kinder haben. Anaise bleibt nur der Giftmischer in der Unterstadt, der sie daran erinnert, dass Frauen Leben spenden und vernichten können. Nach dem Besuch beim Giftmischer ist Anaise imstande, einen radikalen Schlussstrich zu ziehen und sich innerlich von Léo zu lösen und zugleich auch von Bony, der längst eine andere Hauptfrau hat. Der Traum von einem anderen Haiti beginnt für Anaise mit der Unterstützung Félicias.

    Ich nähre eine Hoffnung nach Hellblau, nach Lichtblitzen, die durch die ruhige Wasserober-Fläche hindurch schimmern. Ich trage in mir das Meer von Port-à l´Ecu, dieses Meer, das den guten Engel von Félicia gefangen hält. Mich hungert nach diesem Meer. Ich würde gern mit Félicia in ihre Heimat zurückkehren. Die Schritte ihres Wahns zurückverfolgen und ihn so zerstören. Neu geboren werden.

    Kettly Mars: "Fado", Litradukt, Kehl 2010, Übersetzung: Antje Tennstedt, 11,90 Euro