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Ausbildungsjahr 2019 beginnt
Neue Ideen im Kampf gegen den Fachkräftemangel

2018 konnten laut Berufsbildungsbericht rund 60.000 Lehrstellen nicht besetzt werden. Besonders dramatisch ist die Lage in der Handwerksbranche. Um das zu ändern, sprechen immer mehr Betriebe gezielt Geflüchtete mit guter Schulbildung an. Und es gibt noch weitere Ideen im Kampf gegen den Azubi-Mangel.

Von Anja Nehls | 01.08.2019
Ein Flüchtling schraubt bei seiner Ausbildung zum KFZ-Mechaniker am Unterboden eines PKW / anlässlich der Internationalen Handwerksmesse 2016 in München
Geflüchtete mit guter Schulbildung profitieren von der aktuellen Offensive vieler Betriebe auf der Suche nach Auszubildenden (picture alliance / Sven Simon / Frank Hoermann)
"Also eine Brille, die vorspricht. Die Brille kann man mit jeder Brille montieren, ich habe die Kamera jetzt angemacht und dann liest die Kamera erstmal vor: 'Version 8 ist bereit'."
Issa Attaf steht hinter dem Beratungstisch bei Brillen Marx in Berliner Süden und erklärt einer schwer sehbehinderten Kundin die sprechende Brille:
"Also die Kamera ist bereit - 53 Prozent geladen - ermitteln Sie jetzt die stärksten … und jetzt liest sie vor." - "Also das ist sehr optimal, wenn man einkaufen gehen möchte und die Produkte erkennen, die Kamera liest nicht nur vor, sondern hat auch Gesichtserkennung, Geldscheinerkennung auch und so weiter."
Issa Attaf kam vor dreieinhalb Jahren aus Syrien nach Berlin und hat gerade seine Ausbildung zum Augenoptiker abgeschlossen. Knapp drei Jahre war er hier Lehrling und eigentlich sei man sich eher zufällig beim Fußball über den Weg gelaufen, erinnert sich Meister Peter Ziegner:
"Wir brauchten Mitarbeiter, Augenoptiker sind Mangelware - und wir haben uns verstanden und da haben wir uns einfach auf das Wagnis eingelassen."
Ein Vorteil für beide Seiten
Zum Vorteil für beide Seiten. Allein im Handwerk rechnen die Handwerkskammern in diesem Ausbildungsjahr mit zirka 20.000 Ausbildungsplätzen, die nicht besetzt werden können, klagt der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer:
"Zunächst mal haben wir wesentlich weniger Schulabgänger, es sind zirka 120.000 weniger als noch vor zehn Jahren. Und dann haben wir auch einen Drang ins Studium, fast 60 Prozent aller Jugendlichen wollen studieren - und dann ist es ganz klar, dass die auch bei der Ausbildung fehlen."
Industriemechaniker-Azubis Dennis Raczkowski (vorn) und Martin Grünefeld beim Hand- beziehungsweise Maschinenbrennschneiden (hinten) im Ausbildungszentrum der Berliner Stadtreinigungsbetriebe BSR. 
Industriemechaniker-Azubis Dennis Raczkowski (vorn) und Martin Grünefeld - ganz oben auf der Hitliste beim Handwerk steht der Kfz-Mechatroniker (imago / Jürgen Heinrich)
Handwerksbetriebe werben gezielt um Geflüchtete
Viele Handwerksbetriebe werben deshalb inzwischen gezielt um Geflüchtete mit guter Schulbildung, wie Issa Attaf. Für ihn war der Ausbildungsplatz bei Brillen Marx zunächst eine Möglichkeit, in Deutschland Fuß zu fassen. Sein Chef hat ihm bei der Wohnungssuche geholfen und jetzt kommt er jeden Tag mit einer zu einem Augenoptiker passenden modernen Brille und strahlendem Lächeln in den Laden in Berlin Tempelhof:
"Ich wollte eigentlich ganz was anderes, also ich wollte Maschinenbau oder sowas studieren, in die Richtung, dann hat er mir gesagt, mache erstmal ein Praktikum bei mir und dann kannst du dich entscheiden.
Ich habe erstmal das Praktikum hier gemacht und der Beruf hat mir gefallen, verkaufen auch, Beratung auch und man kann sich auch weiter entwickeln. Es gibt auch noch ein Studium an der Uni. Da bewerbe ich mich jetzt, und nach der Uni werde ich Optometrist, das ist noch eine Stufe weiter als Augenoptiker."
Und auch als Optometrist will er Brillen Marx und dem Augenoptikerhandwerk dann treu bleiben. Jeder zweite Geflüchtete in Ausbildung lernt inzwischen im Handwerk, 18.000 sind es in Deutschland insgesamt und das sind 40 Prozent mehr als im vergangenen Jahr, so Zahlen des Zentralverbands des deutschen Handwerks.
Die Unternehmerverbände Berlin-Brandenburg rechnen damit, dass sich für das kommende Ausbildungsjahr erstmals mehr als 1.000 junge Menschen mit Fluchthintergrund um einen Ausbildungsplatz bewerben. Eine Chance für die Betriebe, den Nachwuchsmangel zu bekämpfen. Peter Ziegner kann das bestätigen:
"Wir bekommen jetzt einen neuen Auszubildenden, auch aus Syrien. Es war einfach der Beste, der sich beworben hat, einen angehenden Bauingenieur. Ja, ich denke im Handwerk ist es einfach auch leichter, Fuß zu fassen, als wenn man im Büro arbeiten würde, weil die Zusammenhänge bezüglich der Sprache etwas schwieriger sind."
Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit 327 anerkannte Ausbildungsberufe. Bürsten- und Pinselmacher oder Klavier- und Cembalobauer wollen wenige werden. Der Großteil der Jugendlichen bewirbt sich auf Ausbildungsplätze der zehn gängigsten Fachrichtungen, ganz oben auf der Hitliste beim Handwerk steht der Kfz-Mechatroniker.
Viele Jugendliche sind nicht ausbildungsreif
61 Prozent der unbesetzten Lehrlingsstellen sind solche, für die ein Hauptschulabschluss ausreicht, das trifft auf viele Handwerksberufe zu. Im Baugewerbe ist die Situation besonders dramatisch, sagt Dieter Mießen, der Ausbildungsleiter des Berliner Tiefbauunternehmens Frisch und Faust. Viele Jugendliche seien einfach nicht ausbildungsreif:
"Wir haben in Berlin viele schuldistanzierte Schüler, die mit hohen Fehlzeiten glänzen, und ich habe gerade gestern wieder eine Bewerbung bekommen, Deutsch, Mathe, Englisch fünf, hohe Fehlzeiten mit hohen Fehlzeiten und unentschuldigten Fehltagen.
Kochlehrling Elke Nüstedt arbeitet am 03.03.2014 bei den 22. Regionalen Jugendmeisterschaften in den gastgewerblichen Ausbildungsberufen in der Küche der Yachthafenresidenz Hohe Düne in Rostock.
Viele Jugendliche streben ein Studium an, anstatt sich für eine Ausbildung zu entscheiden. Darunter leidet vor allem die Handwerksbranche (picture alliance / ZB / Jens Büttner)
Da wird es natürlich schwer, den Einstige in die Ausbildung zu schaffen, wenn das Elternhaus schon nicht dabeisteht, Schule kann nicht alles kompensieren.
Sein Unternehmen setzt jetzt verstärkt auf eigene Weiterbildung der Azubis und auf Kooperationen mit Schulen und Vereinen, um für den Beruf zu werben.
Die Berliner SHK Innung für Heizung, Sanitär und Klimatechnik will jetzt ihre Mitgliedsbetriebe schulen, damit sie ausbildungswillige Jugendliche besser an sich binden und vor einem vorzeitigen Abbruch der Lehre bewahren können. Und Bundesbildungsministerin Anja Karliczek möchte die berufliche Bildung mit einer Mindestausbildungsvergütung attraktiver machen. In den meisten Berufen wird allerdings bereits jetzt deutlich mehr, zum Teil das Doppelte, bezahlt, als die von der Ministerin vorgesehenen 515 Euro brutto im ersten Lehrjahr.
Jeder vierte deutsche Azubi hat Abitur
Unternehmen, die Ausbildungen anbieten, für die ein Abitur oder eine Fachhochschulreife verlangt werden, haben in der Regel weniger Probleme, Nachwuchs zu finden. Jeder vierte Auszubildende in Deutschland hat Abitur.
Ein Beispiel dafür ist Werkk5 – eine Unternehmen für technischen Modellbau in Berlin. In einer alten Kreuzberger Fabrikhalle werden Architekturmodelle für Museen, Architekten, Investoren oder Stadtplaner erstellt. Genauso wichtig wie der Umgang mit Holz, Glas oder Kunststoff ist dabei das Programmieren am Rechner, erklärt der Chef Gunnar Bloss:
"Da hat jeder Mitarbeiter seinen Arbeitsplatz, an dem er zeichnen kann, also CAD-Zeichnungen anfertigen kann, das heißt virtuelle 3D-Modelle, um ein Modell überhaupt erstmal zu konstruieren und was hier auch passiert ist, dass die Maschinensteuerung auch hier am Rechner schon stattfindet, das heißt zur Produktion von bestimmten Bauteilen werden Fräsprogramme geschrieben, das passiert auch schon hier, gar nicht mehr an der Maschine, wie es früher war."
Viele Abiturienten begreifen Ausbildung als "Praktikum"
34 Mitarbeiter hat der Chef Gunnar Bloss, darunter acht Auszubildende, alle mit Abitur. Jedes Jahr gibt es genug Bewerbungen. Aber: Viele Abiturienten begreifen die Ausbildung eher als erweitertes Praktikum, wollen hinterher noch studieren und kehren dem Betrieb dann den Rücken.
Rosa Kantereit hat ihr erstes Ausbildungsjahr jetzt fast hinter sich: "Unter anderem bastele ich auch gerne, deswegen Modellbau. Ich habe tatsächlich auch schon mal studiert, Architektur habe ich gemacht, aber habe da einfach gemerkt, dass ich was mit meinen Händen machen will und dass ich Lust auf was Praktisches habe. Und da bietet sich eine Ausbildung halt an statt ein Studium."
Dennoch: Im vergangenen Ausbildungsjahr konnten laut Berufsbildungsbericht fast 60.000 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden. Die Zahl hat sich im Vergleich zu 2009 mehr als verdreifacht. Eine Trendumkehr ist auch in diesem Jahr nicht in Sicht.