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Ausbrüche aus der JVA Plötzensee
"Grundsätzlich ist so ein Fall in jeder Vollzugsanstalt möglich"

Die Flucht von neun Insassen aus der JVA Plötzensee gleiche einer Posse, sagte René Müller vom Bund der Strafvollzugsbediensteten im Dlf. Ein Grund seien die fehlenden Investitionen in den Justizvollzug. Es scheine fast so, als ob der Strafvollzug als Teil der Sicherheit nicht in allen Köpfen der Politik verankert sei.

René Müller im Gespräch mit Philipp May | 03.01.2018
    Blick auf die Justizvollzugsanstalt Plötzensee
    Blick auf die Justizvollzugsanstalt Plötzensee (Paul Zinken / dpa)
    Philipp May: Man kann es kaum glauben, neun Häftlinge aus dem Gefängnis ausgebrochen. Wenn eine solche Meldung vorgelesen wird, dann erwartet man ja eigentlich, dass es jetzt um ein Drittweltland geht, aber nein, das ist tatsächlich in Deutschland passiert, in Berlin eben, zwischen Weihnachten und Silvester sind in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee tatsächlich neun Häftlinge sagen wir mal abhanden gekommen, vier von ihnen aus dem geschlossenen Vollzug, und sech laufen immer noch frei herum. Und deswegen sind wir jetzt am Telefon verbunden mit dem Bundesvorsitzenden des Bundes Deutscher Justizvollzugsbediensteten, René Müller. Herr Müller, schönen guten Tag!
    René Müller: Hallo, schönen guten Tag, Herr May!
    May: Wie konnte das passieren?
    Müller: Wie kann das passieren? Passieren tut so was immer, wenn Sicherheitslücken entstehen und Gefangene diese zu ihren Gunsten nutzen. Und offensichtlich ist das so in Plötzensee passiert und geschehen, zumindest, was den geschlossenen Bereich anbelangt.
    May: Das heißt, wir leben in einer Bananenrepublik.
    Müller: Ganz so ist es nicht. Die Sicherheit unserer Gefängnisse wird schon notdürftig aufrechterhalten. Wenn man sich das so anschaut, diese neun Entweichungen – ja, das gleicht schon einer Posse, das muss man sagen. Zumindest waren die Zahlen erst vier, dann hieß es sieben, dann hieß es neun. Wie gesagt, es gleicht schon einer Posse. Leidtragende sind in diesem Fall leider unsere Vollzugsbediensteten dort in Berlin, die täglich ihr Bestes geben mit viel zu wenig Personal, und jetzt dieser Häme ausgesetzt sind.
    Komplizen beim Personal?
    May: Ihr Bestes geben ist natürlich die Frage. Wenn wir von Massenausbrüchen aus Gefängnissen in anderen Ländern berichten, dann hatten die Häftlinge meistens Komplizen beim Personal. Können Sie das ausschließen?
    Müller: Das schließe ich definitiv aus.
    May: Also dann müssen Sie uns jetzt noch mal erklären, Sie kennen ja jetzt ein bisschen mehr Hintergründe als wir. Was ist da genau passiert? Wie kann es sein, dass neun Menschen aus dem geschlossenen Vollzug ausbrechen? Hat da ein Beamter geschlafen, weil er arbeitsüberlastet war, und dann ist einer um ihn rumgeschlichen und hat den Schlüssel geklaut?
    Müller: Ganz so ist es nicht. Wie kann so was passieren, wie kommt das insgesamt zustande? Da sage ich Ihnen ganz offen als Vorsitzender des Bundes Strafvollzugsbediensteter in Deutschland. Es fehlen einfach Investitionen. Investitionen in den Strafvollzug, Investitionen ins Personal, insgesamt in den Justizvollzug. Das sieht wie folgt aus, dass wir marode Bausubstanzen haben – ich beziehe das jetzt auf Gesamtdeutschland –, wir haben zum Teil verwinkelte Anstalten, die noch aus dem frühen 19. Jahrhundert – die dort entstanden sind. Wir haben veraltete Sicherheits- und Kameratechnik.
    May: Das heißt, im Zweifel reicht die Nagelfeile aus in Deutschland, um auszubrechen?
    Müller: Ich will jetzt mal ganz ketzerisch sein: Unter Umständen könnte das sogar reichen, ja. Aber eigentlich nicht in geschlossenen Bereichen, sondern im offenen Bereich. Man muss schon mal ganz klar differenzieren. Neun Gefangene, die dort jetzt abhanden gekommen sind, wie Sie es sagten, vier aus dem geschlossenen Bereich –
    "Die hätten es viel einfacher haben können"
    May: Sie haben gesagt "entwichen".
    Müller: Entwichen, genau. Vier sind ja tatsächlich ausgebrochen in dem Fall aus dem geschlossenen Bereich, und das andere gibt natürlich Fragen auf, weil ein offener Vollzug, in dem sich die anderen fünf befunden haben, ist ja eigentlich ein Vertrauens- oder ein Erprobungsvollzug. Dort befinden sich Gefangene in der letzten Phase ihrer Haft, und die haben natürlich auch zahlreiche Vollzugslockerungen, also Ausgang, Freigang, Urlaub et cetera. Insofern verwundert es dann schon, wenn man die Meldung hört, dass sich dort zwei Gefangene durchs Fenster gerüttelt haben. Die hätten es viel einfacher haben können, wenn sie aus dem Freigang nicht zurückgekehrt wären. Also, man muss da schon genau differenzieren. Die Zahl neun, ich muss ehrlich sagen, ich bin 27 Jahre jetzt im Vollzug, in so kurzer Zeit neun Entweichungen, das habe ich auch noch nicht erlebt. Aber man muss eben ganz klar differenzieren zwischen dem geschlossenen und dem offenen Vollzug.
    May: Sie haben gesagt, Sie beziehen sich auf ganz Deutschland. Also so was wäre auch, sagen wir mal, in Bayern möglich? Oder ist Berlin auch hier wieder ein spezieller Fall?
    Müller: Ich sag ja, ganz grundsätzlich. Grundsätzlich ist so ein Fall in jeder Vollzugsanstalt möglich, und ich sage bewusst, in jeder Vollzugsanstalt, wenn Sicherheitslücken entstehen, wenn die Sicherheitslücken nicht aufgedeckt und geschlossen werden. Und Gefangene haben 24 Stunden Zeit am Tag, sich was auszubaldowern, und Sie können mir glauben, die nutzen die Gelegenheit.
    May: Die baldowern sich dann schon die entsprechenden Sachen aus. Jetzt haben Sie ja gesagt, es wird nicht investiert. Ist das Problem politisch wahrscheinlich schon lange bekannt?
    Müller: Aus unserer Sicht, aus Sicht der Gewerkschaft auf jeden Fall, denn wir haben schon lange davor gewarnt, und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern eigentlich mit Kopfschütteln. Ich glaube, was noch nicht so – diese Posse die da entstanden ist, ist eigentlich kein Anlass für Klamauk, denn wir reden hier immer noch über den Strafvollzug, und der Strafvollzug ist ein elementarer Bestandteil der inneren Sicherheit in Deutschland. Und insofern verwundern einen doch schon diese dürftigen Investitionen. Es hat den Anschein, dass der Strafvollzug als Teil der Sicherheit nicht in allen Köpfen der Politik verankert ist.
    Sanierungskosten im Milliardenbereich
    May: Jetzt fordert die Berliner Opposition ja den Rücktritt von Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen. Dann scheint das ja der richtige Adressat zu sein. Das ist ja politisches Versagen dann, wenn die Investitionen gefehlt haben.
    Müller: Ist das so, Herr May?
    May: Weiß ich nicht.
    Müller: Ja, natürlich. Die Politik ist der erste Ansprechpartner, denn die Politik hat das zur Verfügung zu stellen. Die hat für Investitionen zu sorgen, und sie hat auf die Not, die wir momentan im Strafvollzug haben, einzugehen. Aber ob jetzt der Rücktritt eines einzelnen Senators der richtige Weg ist? Wissen Sie, der wird jetzt abgelöst von seinem Amt, dann kommt der nächste ins Amt. Der braucht auch wieder eine Zeit, ehe er sich eingearbeitet hat, ehe dann wirkliche Umwandlungen stattfinden -
    May: Und er braucht vor allem Geld, nehme ich an. Wie viel, können Sie das beziffern? Wie viel wäre nötig?
    Müller: Deutschlandweit sind wir im Milliardenbereich, wenn wir von Sanierung sprechen, wenn wir vom Personal sprechen et cetera.
    May: Die Flucht von insgesamt neun Gefangenen aus der Haftanstalt Berlin-Plötzensee sorgt ganz offensichtlich für Diskussionen. Einschätzungen waren das von René Müller – Herr Müller, ich hätte gern noch länger mit Ihnen geredet –, Vorsitzender des Bundes Deutscher Justizvollzugsbediensteten. Vielen Dank für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.