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Auschwitz-Gedenken
"Man muss emotionale Brücken schlagen"

Das Gedenken an den Holocaust müsse besser an die heutige Zeit und die Zielgruppen angepasst werden, meint der Historiker Michael Wolffsohn. Es werde zwar viel darüber geredet, aber nicht mit dem gewünschten Erfolg, sagte er im DLF mit Blick auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Holocaust.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Bettina Klein | 27.01.2015
    Der Historiker Michael Wolffsohn
    Der Historiker Michael Wolffsohn (imago/Müller-Stauffenberg)
    Nach einer repräsentativen Studie wollen viele der Befragten in Deutschland die Judenverfolgung "hinter sich lassen" oder sogar einen "Schlussstrich" ziehen. "Das würde ich nicht dramatisieren", sagte Wolffsohn im DLF. Einen Schlussstrich ziehen müsse nicht bedeuten, dass das Thema nicht mehr wichtig sei und dass es vergessen werde.
    Es sei wichtig, den Holocaust nicht nur mit einfachen Phrasen und den immer gleichen Vokabeln zu behandeln, sondern in die heutige Zeit zu übernehmen. Er freue sich deshalb über die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck im Bundestag, der im Bundestag erklärt hatte: "Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz."
    Aus Sicht Wolffsohns müssen "thematische und emotionale Brücken" geschlagen werden, um die Menschen zu erreichen.
    Die Bundesrepublik habe zwar im Laufe ihrer Geschichte viel geleistet, was die Aufklärung der NS-Geschichte angeht. Wie die aktuelle Umfrage zeige, gebe es aber weiter viel zu tun.

    Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich den Historiker Michael Wolffsohn. Er lehrte bis vor einigen Jahren neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr. Ich grüße Sie, Herr Wolffsohn.
    Michael Wolffsohn: Guten Tag.
    Klein: Wir haben gerade einen Auschwitz-Überlebenden hören können, der weiterhin gegen das Vergessen und für die Erinnerung kämpft. Fragt sich, wie schwierig das werden könnte. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die gestern veröffentlicht wurde, hat belegt: 65 Prozent der Deutschen unter 40 Jahren wollen einen Schlussstrich unter die Geschichte des Holocaust ziehen. Bei den Älteren ist es immer noch etwas mehr als die Hälfte, die einen Schlussstrich befürworten. Für Sie eine bedenkliche Bilanz, 70 Jahre danach?
    Wolffsohn: Das kommt ganz darauf an, wie man das Wort Schlussstrich interpretiert, und es soll ja eine repräsentative Studie sein, ist es auch, und das heißt, dass es so und so viele Menschen gibt, die so und so viele Meinungen haben. Und das Wort Schlussstrich ist nun alles andere als eindeutig. Das heißt nicht automatisch, dass die Leute davon nichts wissen wollen, sondern - und das ist bei Gedenkfeiern ja auch immer wieder auffallend - nicht immer wieder die gleichen Vokabeln. Irgendwann werden diese inflationiert und alles, was inflationär ist, führt zu einer Entwertung bei. Kurzum: Das würde ich nicht dramatisieren.
    Klein: Welche Einstellung der Befragten verrät Ihnen denn das? Um das vielleicht konkreter zu fassen: Es wurde gefragt, befürworten Sie, dass genug geredet wurde über die Vergangenheit und auch über den Holocaust. Das war ein Detail dessen, was Schlussstrich bedeuten sollte.
    Wolffsohn: Richtig! Und es wird ja auch sehr viel geredet, und dass dieses viele Reden nicht unbedingt zum gewünschten Erfolg führt, zeigt die Tatsache, dass, wenn ich die Zahl richtig auswendig im Gedächtnis habe, 25 bis 30 Prozent vor allem der Jugendlichen mit dem Wort Auschwitz nichts anfangen können. Das heißt also, dass die Bemühungen von Politik, Erziehern, Schulen, Medien da ins Leere gelaufen sind. Das heißt, wir müssen uns überlegen, wie man das Gedenken sozusagen zeitgemäß und zielgruppengemäß gestaltet, aber nicht immer mit den immer gleichen Vokabeln.
    Klein: Was würden Sie denn vorschlagen, was man da in Zukunft besser machen könnte?
    Wolffsohn: Ich fand das, was ich über die Rede des Bundespräsidenten gehört habe, ganz ausgezeichnet. Hier war das persönliche Moment, es waren keine Phrasen, er hat ganz eindeutig davon gesprochen, eine großartige Formulierung, dass deutsche Identität mit Auschwitz verflochten sei. Umgekehrt wäre zu ergänzen, dass eben auch jüdische und israelische Identität mit Auschwitz verbunden sei, und zwar in folgender Weise: Die Deutschen in ihrer großen Mehrheit - und machen wir uns nichts vor: Es ist die Mehrheit der Deutschen - sagt, nie wieder Täter. Deswegen gibt es erfreulicherweise keine aggressive deutsche Außenpolitik. Umgekehrt sagt die jüdische Welt, einschließlich Israel, nie wieder Opfer, und damit muss man sich beschäftigen, und das zeigt auch die Bertelsmann-Studie, dass in der deutschen Öffentlichkeit für die israelisch-jüdische Befindlichkeit, ich sage Befindlichkeit, nicht genügend Verständnis ist. Und das erreicht man nicht, indem man immer wieder auf das längst Bekannte, den meisten längst Bekannte in Bezug auf Auschwitz und den schrecklichen Holocaust wiederholt, sondern man muss thematische und emotionale Brücken schlagen. Das hat der Bundespräsident sehr gut gemacht.
    Klein: Nun sprechen wir in diesen Tagen viel über eine Bewegung, die sich in Ostdeutschland, vor allen Dingen in Sachsen, in Dresden herausgebildet hat. Mit Pegida ist eine Bewegung entstanden, die sich einerseits den Erhalt des Abendlandes auf die Fahnen geschrieben hat, andererseits artikuliert sich da bei einigen nicht selten eine autoritäre Haltung und es werden ausländerfeindliche Parolen gerufen. Wie passt das für Sie an einem solchen Tag in die öffentliche Debatte hinein, in der wir viel über Vergangenheitsbewältigung sprechen?
    Wolffsohn: Die Vergangenheit ist nie bewältigt, weil die Vergangenheit und deren Interpretation - wir sehen das auch an der Auseinandersetzung Polen-Russland -, die Vergangenheit und ihre Interpretation ist ein Stück Tagespolitik. Das heißt, es hängt von den tagespolitischen Grundeinstellungen und es hängt von den ideologischen und politischen Positionen der einzelnen Bürger ab, wie sie die Vergangenheit bewerten. Das heißt, wir müssen ständig uns über die jeweiligen Probleme auseinandersetzen, und die Vielfalt der Gesellschaft, die im Nationalsozialismus angeblich beendet werden sollte, als schon damals das irrsinnige Stichwort von der Überfremdung Deutschlands gefallen ist, das war ja ein ganz geringer Anteil, wo es vermeintlich Nichtdeutsche gegeben hat. Jetzt quantitativ haben wir ein viel größeres Problem, und das heißt, die Menschen sind verunsichert, und da kann man nicht mit Hü oder Hott und mit Schwarz oder Weiß argumentieren. Das gilt für Pegida ebenso wie für die Zeit der Weimarer Republik und die des Dritten Reiches. Man muss genau hinsehen und nicht mit pauschalen Urteilen und Verurteilungen kommen.
    Eine Übersichtskarte des Konzentrationslagers Auschwitz.
    Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 in das KZ Auschwitz deportiert. (picture alliance / dpa / dpa-grafik)
    Klein: Der Bundespräsident hat heute auch in seiner Rede ausdrücklich verurteilt die Art und Weise der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der DDR. Der staatliche Antifaschismus habe die Gesellschaft pauschal von der rechtlichen und moralischen Verantwortung für die NS-Verbrechen freigesprochen und dadurch das Verdrängen von Versagen und Schuld befördert. Sehen Sie das auch so?
    Wolffsohn: Absolut! Ich habe dazu ja auch ein relativ dickes Buch geschrieben. Ohne Wenn und Aber hat der Bundespräsident auch hier recht. In einem Punkt würde ich ihm bei aller Verehrung doch widersprechen. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte in der frühen Bundesrepublik war besser als ihr Ruf und auch besser, als es der Bundespräsident darstellte. Ich erinnere an die Pionierleistung von Konrad Adenauer, wohl gemerkt mit der SPD, in Bezug auf das Wiedergutmachungsabkommen Anfang der 50er-Jahre. Ich erinnere daran, dass das Tagebuch der Anne Frank, welches 1955 erschien, ein Millionen-Bestseller war. Menschen kaufen keine Bücher, wenn sie mit diesem Thema nichts zu tun haben wollen. Also das kann man im Einzelnen belegen. Hier ist ein Klischee bedient worden. Aber wohl gemerkt: Es war eine ganz hervorragende Rede, die man in Einzelheiten dennoch natürlich kritisieren kann. Das, was die Bundesrepublik geleistet hat, ist beachtlich. Aber es ist noch viel zu leisten, und das sehen wir an den Umfragen, die Sie hier erwähnt haben.
    Klein: Herr Wolffsohn, abschließend: Wie bedauerlich ist es denn aus Ihrer Sicht, dass der russische Präsident heute nicht an den Gedenkfeiern in Auschwitz teilnimmt? Wir haben auf die diplomatischen Unebenheiten im Verhältnis Warschau-Moskau schon am Anfang hingewiesen.
    Wolffsohn: Na gut, da sind wir bei dem gleichen Thema. Die Interpretation der Vergangenheit ist ein Stück Tagespolitik. Hier hat sich weder die polnische noch die russische Seite mit Ruhm bekleckert. Es ist selbstverständlich, dass Putin nicht die Personalisierung der historischen oder politischen Moral ist, aber es ist genauso eindeutig, dass die Rote Armee, die Rote Armee, die Rote Armee und eben die Rote Armee Auschwitz befreit hat, und die befreiten von Auschwitz haben nicht gefragt, ist denn Stalin koscher.
    Klein: Der Historiker Michael Wolffsohn heute im Interview im Deutschlandfunk an diesem 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Wolffsohn.
    Wolffsohn: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.