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Auschwitz-Prozess
Zumutung und Genugtuung für die Überlebenden

Es dauerte mehr als 70 Jahre, bis der SS-Mann Oskar Gröning vor Gericht kam. Für die wenigen Auschwitz-Überlebenden ist das Verfahren am Landgericht Lüneburg Zumutung und Genugtuung zugleich. Doch wie lange wird der 93-Jährige dem Prozess wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen noch folgen können?

Von Alexander Budde | 12.05.2015
    Oskar Gröning sitzt mit verschränkten Armen auf der Anklagebank.
    Der Angeklagte Oskar Gröning im Gerichtssaal in Lüneburg. (dpa / Ronny Hartmann)
    Tausende SS-Schergen und Gehilfen leisteten in der Mordfabrik Auschwitz ihren Dienst taten. Nur einer Handvoll von ihnen hat die deutsche Justiz dafür den Prozess gemacht. Oskar Gröning hat die Einheit befehligt, die das Raubgut bewachte. In Lüneburg schildert er, wie sie in Mänteln, Schuhen, Koffern nach verborgenem Schmuck, nach kostbaren Devisen der Todgeweihten suchten. Seine moralische Mitschuld räumt der Angeklagte gleich zum Auftakt des Verfahrens ein.
    Doch wie lange wird der 93-Jährige dem Prozess wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen noch folgen können? Vorige Woche ließ Richter Franz Kompisch die Verhandlung unterbrechen, da der Angeklagte nicht aus dem Bett zu bringen sei. Für Cornelius Nestler Anlass genug, noch einmal vehemente Kritik an der bisherigen Rechtspraxis zu üben. Von einem versagen der deutschen Justiz, insbesondere der Frankfurter Staatsanwaltschaft, spricht der Anwalt. Mit seinem Kollegen Thomas Walther vertritt er mehr als 50 Nebenkläger, Überlebende von Auschwitz und deren Angehörige.
    "Der Umstand, dass jetzt Greise angeklagt werden, der hat natürlich damit zu tun, dass man fünf Jahrzehnte lang gewartet hat, bis man jetzt endlich solche Verfahren mal gemacht hat. Eine Begründung die 2005 noch vertreten wurde war, dass die gesamten SS-Wachmannschaften an der Rampe eigentlich vollkommen überflüssig waren. "
    Handbewegung entschied über Leben und Tod
    Eva Pusztai-Fahidi hat im Zeugenstand gegen den früheren SS-Mann ausgesagt. Die 89-Jährige sitzt Gröning seit Wochen gegenüber, sie hört den Greis im Jargon der Nazis von Versorgung sprechen. Und weiß, was er tatsächlich meint. Vater, Mutter, Schwester, 49 ihrer Familienangehörigen hat sie im Gas verloren. Auf der Rampe von Auschwitz war es eine Handbewegung von Lagerarzt Mengele, die über Leben und Tod entschied.
    "Die größte Tragödie meines Lebens ist mir so zugekommen, dass ich überhaupt nichts darüber gewusst habe, was mit mir passiert ist. Dass ich alles verloren habe, bei dieser kleinen Gebärde. Alle Auschwitz Überlebende müssen etwas im Leben mit diesem Trauma anfangen. Man kehrt immer zurück!"
    Eva Kor hat in den Fängen Mengeles grausame Experimente durchlitten. 70 Jahre später reicht die Überlebende dem SS-Schergen Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung. In der ARD-Sendung Günther Jauch lässt sie Zweifel am Nutzen einer juristischen Aufarbeitung der Mordtaten anklingen. Wie die allermeisten Nebenkläger hat auch Hedy Bohm das mediale Ereignis mit Befremden aufgenommen. Im Prozess geht es doch um industriell organisiertes Massentöten, sagt die streitbare Überlebende, die heute in Kanada lebt:
    "Diese Dame hat es über sich gebracht. Ich wäre dazu nicht im Stande. Ich fühle mich nicht dazu berufen, die Ermordung meiner Mutter, meines Vaters, der kleinen Cousinen, der Tanten und Onkel, meiner Klassenkameraden zu verzeihen. Denn wer bin ich schon?"
    "Verzeihen wollen wir nicht"
    Die Kammer hört von den unmenschlichen Zuständen schon bei den tagelangen Tarnsporten nach Auschwitz, von den Selektionen an der Rampe. Eine Zumutung ist dieser Prozess für die wenigen Überlebenden, die noch die Kraft haben, sich persönlich an den bislang 27 angesetzten Verhandlungstagen einzufinden. Aber sie empfinden ihn auch als Genugtuung, loben die Anteilnahme und Fürsorge des Gerichts. Nebenklage-Anwalt Walther sagt:
    "Sie wollen ja von ihm hören, wie es denn war. Sie warten allerdings sicherlich noch drauf, dass der Umfang des Einsatzes dann eventuell auch noch etwas mehr wahrheitsgemäß geschildert wird. Die Geschichte von dem kleinen Unteroffizier, der während der Ungarn-Aktion nicht mehr auf die Rampe muss, das ist also eine Mähr!"
    Und so führen sie ihre Klage in Lüneburg: Aus Ungarn, Kanada, Israel sind die hoch betagten Zeugen angereist. Hedy Bohm und Eva Pusztai-Fahidi treten vor Schulklassen auf. Sie freuen sich, dass die jungen Leute so viel wissen wollen.
    "Wir wollen nicht hassen, einfach aus diesem Grund, weil wir unsere Seele nicht mit dem Hass beflecken wollen. Wir haben die Auseinandersetzung entdeckt! .... Aber verzeihen können wir nicht! Und wollen wir nicht!"