Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ausflug in die Welt der Psychose

Ein "sprachmächtige Diskursmärchen", heißt es auf der Webseite des Theaters Heidelberg, sei das Stück "Expedition und Psychiatrie". Aus Therapeutensicht betrachtet ist Stockmanns an Logorrhoe leidendes Stück ein Hilferuf.

Von Christian Gampert | 05.03.2011
    Gegen die "dumme Kultur des Verstehens, Verortens und Nutzbarmachens" zog der sehr erfolgreiche Stückeschreiber Nis-Momme Stockmann schon letztes Jahr zu Felde, bei den Mülheimer Theatertagen. "Der Gedanke" dürfe "in keine verständliche Dramaturgie" gezwängt werden, er müsse vielmehr "entfesselt, diskursiv kreisend, uneindeutig" sein. Das klingt nach Artaud und René Pollesch - und das soll es wohl auch.

    Ziemlich viele diskursiv kreisende krause Gedanken bietet nun Stockmanns neuestes Stück, das aparterweise auf die Psychiatrie Bezug nimmt und nur unter Einnahme von Sedativa auszuhalten ist. Entgegen den Einsichten früherer, eher traditionell erzählender Arbeiten, die selbstironisch Eltern-Kind-Beziehungen und entfremdete Lebensverhältnisse durchkneteten, bringt Stockmann - offenbar unter Auftrags-bedingtem Schreibzwang - all das zu Papier, was man in postpubertärer Emphase immer schon mal sagen wollte, aber lieber in der Schublade ließ. Also Dinge wie: Gott ist tot - oder vielleicht doch nicht? Auf "tot" reimt sich "Kot", woraus der Mensch ja wesentlich besteht, und aus "Kacki" wiederum könne man Gott machen. Das Individuum aber sei am Ende. Und die Worte, o Lord Chandos, hätten ihre Bedeutung längst verloren, weshalb Stockmanns Figuren mit Hingabe die Vokale A E I O U ausstoßen. Der böse Kapitalismus drangsaliert uns alle, aber Hoffnung besteht nicht wirklich in der Revolution, sondern in der Verweigerung, im Schweigen. "Wildsein, das heißt schweigen für die Welt" - das sind die letzten goldenen Worte des Stücks, und während der zwei Stunden im Heidelberger Theater weiß man nicht recht, ob dieser neue Jargon der Eigentlichkeit nun Karikatur ist oder ernst gemeint.

    Leider ist letzteres zu befürchten. Notdürftiges Handlungs-Element ist die Expedition eines Zauberkünstlers, offenbar eines Stockmann-Alter-Ego, der sich von Mami und Papi verabschiedet und in der durchrationalisierten Welt Agenten, Generalsekretären und Ähnlichem in die Hände fällt. Ein Künstler- und Erziehungsroman, auf die Bühne gehievt vom Autor selbst, der als Regisseur nun zeigt, dass er die neuesten Theatermoden ausgiebig konsumiert hat - also Chor, Video, Sound, Schattenspiele, Popsongs - , diese Theatermittel aber nur als Sammelsuriums-Salat anzurichten vermag; ein Kollektiv-Gewusel, in dem das Formlose der Stückvorlage nun endgültig ins Delirante abdriftet.

    Dass das Verrückte politisch und ästhetisch revolutionär sein kann und ein surreales drittes Auge öffnet, wissen wir seit Heinar Kipphard oder auch, etwas platter, seit dem Sozialistischen Patientenkollektiv. Dass junge Autoren die Kämpfe der Vergangenheit zwanghaft als Farce wiederholen müssen, ist einerseits ihr gutes Recht, andererseits ermüdend. In den Eiswüsten der Gegenwart darf man gerne die Fahne des Widerstands hissen - und Stockmann tut das abendfüllend und mit Bezug auf alle möglichen Topoi, von Delacroix und Géricault bis zu Nietzsche oder vulgärpsychologischen Bildern wie dem zur Kanone umfunktionierten Penis. Wenn insgesamt aber nur der Eindruck bleibt, hier habe jemand zu viel poststrukturalistische Prosa konsumiert und noch nicht verdaut, ist das eher wenig an Ertrag.

    Aus Therapeutensicht betrachtet ist Stockmanns an Logorrhoe leidendes Stück ein Hilferuf. Hier möchte jemand ganz offensichtlich nicht mehr schreiben; er möchte sich ins Schweigen flüchten, während die ganze Welt, der Markt, von ihm immer neue Stücke verlangt. Es ist legitim, sich dem zu widersetzen. Nur sollte man das nicht dadurch tun, dass man auf der Bühne zig neue Mittel ausprobiert und schon mal andeutet, dass man demnächst als Filmer oder als Songschreiber eine Wiedergeburt erleben könnte. Man sollte dann einfach Pause machen und abwarten, ob im theaterlosen Vakuum die Verführungen der Welt nicht ganz anders aussehen als in der Hölle des ständigen Produktionszwangs.