Freitag, 29. März 2024

Archiv


Ausgelöscht sei der Tag

In der jüdisch-amerikanischen Literatur der Gegenwart schlägt die fünfundzwanzigjährige New Yorkerin Dara Horn einen ganz eigenen Tonfall an. In ihrem Romandebüt Ausgelöscht sei der Tag verbindet sie das heutige, kosmopolitische Lebensgefühl ihrer eigenen Generation mit den Einwandererschicksalen früherer Generationen. Eine Kluft aus Schweigen und Unkenntnis steht zwischen den Älteren und den Jungen. Aber auch zwischen den Angehörigen einer jeweiligen Generation herrschen Missverständnisse und Entfremdung. Auf irgendeine Weise hadern alle mit Verlusten, Fehlschlägen und dem Unvermögen, einander im Innersten zu erreichen. Die Handlung wird in Gang gesetzt durch den Unfalltod des jungen Mädchens Naomi, einer Altersgenossin der Autorin. Die gleichaltrige Erzählerin Leora begegnet Naomis Großvater Bill Landsmann, aber es gelingt ihnen nicht, zueinander zu finden und die Trauer gemeinsam zu überwinden. Ausgehend von dieser misslungenen Freundschaft zwischen zwei Menschen, die sich wie Touristen im Leben fühlen, schickt Dara Horn ihre Figuren auf eine weitläufige Suche und schlägt vielfältige Bögen zwischen alter und neuer Welt. So entsteht ein Familienepos aus sich kreuzenden Lebensläufen. In einer geradezu mythischen Verschmelzung aus Alltagsbeschreibungen, historischen Exkursen und biblischen Beschwörungen gelingt der jungen Autorin dabei eine Versöhnung, die jeglicher Sentimentalität entbehrt. Denn mancher ihrer Charaktere erfüllt, ohne es zu wissen, den Traum eines anderen aus einer früheren Generation.

Sabine Baumann | 07.02.2003
    Die Autorin wartet mit einigen Überraschungen auf. So unterzieht sie das Genre der Einwandererliteratur einer wohlwollenden und zugleich kritischen Prüfung und hebt das Axiom aus den Angeln, dass der Weg der amerikanischen Juden geradewegs aus Europa in das gelobte Land jenseits des Atlantik führte. Die Reise, auf die sich all ihre Figuren begeben, ist eine Metapher für das Leben selbst und nimmt entsprechend verschlungene Pfade. So beschreiten Mitglieder der Familie Landsmann auch den umgekehrten Weg aus einem befremdlich konsumorientierten Amerika zurück in das Europa der Pogrome und des Holocaust und von dort wieder in ein Exil, das seinerseits von verschiedenen Etappen geprägt ist. Bill Landsmanns Pubertät, überschattet von dem Kriegstrauma seines Vaters und vom Antisemitismus, spielt sich etwa in Amsterdam ab, das später auch für Leora zu einem entscheidenden Ort des Erwachsenwerdens wird. Die Autorin widerspricht der Vorstellung, die jüdische Gemeinde zeichne sich in Europa ebenso wie in Amerika durch einen besonderen Zusammenhalt aus. Vielmehr thematisiert sie Risse, die mitten durch die Familien oder gar durch jeden Einzelnen verlaufen und die teils durch persönliche Schuld, teils durch unerbittliche Konventionen aufgebrochen sind. Deshalb kritisiert sie auch mutig die Darstellungen von Holocaust-Filmen, die das jüdische Leben in Europa sentimental überhöhen, so als sei es ein besonderes Verbrechen gewesen, die schönen, wohlhabenden und liebenswürdigen Juden umzubringen. Bill Landsmann, sein Vater und mancher ihrer Vorfahren sind hingegen unscheinbar und voller Fehler und deshalb, natürlich zu Unrecht, von der Geschichtsschreibung vergessen.

    Dara Horn begeht nicht einfach Wiedergutmachung an ihnen, sondern will den Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit und vor allem ihrer Unfertigkeit gerecht werden. Deshalb nimmt sie die biblische Metapher von der menschlichen Persönlichkeit als einem stets weiter formbaren Klumpen Lehm ernst und zeigt ihre Figuren in ständigem Wandel. Tragisches und Komisches wechseln sich miteinander ab, und immer entzieht sich die Autorin den Klischees, mit denen sie spielt. So entwickelt sich Leoras Jugendfreund Jason vom Collegesportler mit ausgesprochener Abneigung gegen das religiöse Judentum zum "mentschelnden" Altenpfleger. Schließlich tritt er sogar zur Orthodoxie über und erfüllt als Ehemann und Diamantenhändler vor sich selbst und vor anderen ein scheinbar gängiges Bild, das die Autorin in einer weiteren überraschenden Wendung freilich wieder zerschlägt. Dara Horn spürt in jedem Menschen etwas Unvorhersehbares, Wildes, und jedes Leben enthält für sie zahllose unverwirklichte Entfaltungsmöglichkeiten. Literatur hat für sie ganz offensichtlich die Aufgabe, auch diese unverwirklichten Möglichkeiten zu realisieren, die nicht eingeschlagenen Wege aufzuzeigen.

    Das gelingt ihr trotz kleiner Schwächen eines Debüts auf originelle Weise. Sprachlich virtuos ist die deutsche Fassung ihres Buchs dank der glänzenden Übersetzung von Miriam Mandelkow. Den verschiedenen Stilebenen wird die Übersetzerin ebenso gerecht wie den anspruchsvollen biblischen Anleihen, für die sie auf eine Bibelübersetzung des jüdischen Gelehrten Tur-Sinai zurückgegriffen hat, die im Berlin der 20er Jahre entstanden ist. Außer der Metapher von der Reise, auf die sich jeder allein durchs Leben begibt, kehren in "Ausgelöscht sei der Tag" neben biblischen auch verschiedene poetische Bilder wieder und werden zu einem dichten Muster der Erinnerung verwoben. Puppenhäuser, zugleich ein Symbol für die Kindheit und den Aufbau einer eigenen Familie, verbinden die Erzählerin Leora mit ihrer toten Freundin Naomi. Sie gehören aber auch zu dem Großvater und dem Rijksmuseum von Amsterdam, wo Leora ihrem künftigen Lebensgefährten begegnet. Tefillin, Gebetskapseln, begleiten die europäischen Landsmanns in den Krieg und auf die Flucht, und sie gelangen schließlich, auf Umwegen über den Meeresgrund vor New York, in Leoras Hände. Sie nimmt sie an als Bild für jene Tradition, von der sich mancher vielleicht auf seinem Lebensweg befreien musste und von der Dara Horn dennoch ihre Generation und ihre Literatur nicht getrennt wissen will.