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Auslese kompakt
"Schlangentanz" um die Atombombe

Sechs Monate verbrachte der Schriftsteller Joseph Conrad 1890 in der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II. Im damaligen Kongo-Freistaat wurde er Zeuge grausamer Kämpfe, von Versklavung und Massenmord. Conrad war im "Herz der Finsternis". Und aus diesem Herz - so schreibt Patrick Marnham in seinem Buch "Schlangentanz" - sollte ein halbes Jahrhundert später das Uran für die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki kommen.

Rezensiert von Dagmar Röhrlich | 06.08.2015
    In diesen Gebäuden im kongolesischen Kinshasa war Afrikas erster Atomreaktor untergebracht, erbaut im Jahr 1958
    In diesen Gebäuden im kongolesischen Kinshasa war Afrikas erster Atomreaktor untergebracht, erbaut im Jahr 1958 (AFP Photo / Lionel Healing)
    "Was es für die Menschen (dort) bedeutete, in die Schusslinie des Manhattan Projects geraten zu sein, war absehbar. Die Union Minière presste mit Zwangsarbeit und [...] einer Peitsche aus Nilpferdhaut alles aus der Belegschaft heraus."
    Der "Schlangentanz" beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, zu der Zeit als Conrad bei derselben "Union Minière du Haut Katanga" angestellt war, die später das Uran fördern sollte. Das Buch ist ein brillanter Bericht über Patrick Marnhams eigene Reise ins Herz der Finsternis - und zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters. Er folgt "der Fährte des Urans vom Kongo über New Mexico nach Japan".
    Ein Ziel ist der halb verfallene Atomreaktor von Kinshasa:
    "Ein Geschenk des Volkes der Vereinigten Staaten für das Uran, das der Kongo während des Zweiten Weltkriegs für die Entwicklung der Atombombe geliefert hatte."
    Im Kontrollraum verhindert ein rissiger, über einen Schalter gestülpter Plastikbehälter, dass jemand die Anlage versehentlich hochfährt. Andere Stationen Marnhams sind Los Alamos oder das National Atomic Museum in Albuquerque mit den Repliken der Atombomben von Little Boy und Fat Man:
    "Jüngere Besucher, etwa im Alter der Enkel von Dr. Seltsam, versuchen manchmal hinaufzuklettern."
    Verwoben mit dem Reisebericht ist die Lebensgeschichte seiner illustren Protagonisten, des Schriftstellers Joseph Conrad mit seinen düsteren Visionen vom Untergang der Zivilisation oder des Kunsthistorikers Abraham Warburg, der in den USA kurz nach den Indianerkriegen den Schlangentanz der Hopi beschreibt. Auf dem Land der Hopi ließ Robert Oppenheimer Los Alamos errichten, das geheime Forschungszentrum zum Bau der Atombombe. Und die Verbindung zu den Hopi erklärt auch den Titel: Sie verehrten die regenbringenden Blitze in Verkörperung der Klapperschlange:
    "Wenn die Indianer die Schlange kontrollieren konnten, dann konnten sie auch [...] den Blitz kontrollieren."
    Und Robert Oppenheimer kontrollierte im Manhattan Project die Atomenergie für die zerstörerischste Massenvernichtungswaffe, die je zum Einsatz gekommen ist.
    Der "Schlangentanz" ist ein komplexes Roadmovie. Es erzählt die Geschichte der Atombombe und der Menschen, die direkt oder indirekt mit ihr verbunden sind. Es geht um Genie und Wahnsinn, und sie bietet Marnham die Plattform, um über die Lust der Menschen an Macht und Gewalt nachzudenken. Das Buch endet in Hiroshima, Nagasaki - und in Fukushima, wo 2011 die friedlich genutzte Kernenergie Japan erneut ins Chaos stürzte.
    Zielgruppe:
    Jeder, der an einer etwas anderen Geschichte der Atombombe interessiert ist.
    Erkenntnisgewinn:
    Patrick Marnhams warnt, nicht wie Conrad, Warburg oder Oppenheimer in Illusionen Zuflucht vor der Realität zu suchen.
    Spaßfaktor:
    Ein höchst lesenswerter Alptraum.
    Patrick Marnham: "Schlangentanz - Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters"
    Berenberg Verlag, Berlin, 373 Seiten, 25.00 Euro
    ISBN: 978-3-93783-483-2