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Ausreise, "sofort, unverzüglich"

Der Fall der Mauer war ein Ereignis, mit dem niemand gerechnet hatte - trotz der Formierung oppositioneller Gruppen, trotz der vielen Demonstrationen und trotz der Fluchtbewegung. Zehntausende waren im Herbst 1989 aus der DDR geflohen. Heute vor 20 Jahren öffnete die DDR ihre Grenzen zum Westen.

Von Sylvia Conradt | 09.11.2009
    "Wir sind das Volk. Wir sind das Volk. Wir sind das Volk."

    Mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" zogen im Spätherbst 1989 Hunderttausende DDR-Bürger landesweit gegen den Führungsanspruch der Staatsmacht SED zu Felde. Tausende flohen über die inzwischen offenen Grenzen Ungarns via Österreich in die Bundesrepublik. Andere flüchteten sich in die bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag und erzwangen auf diese Weise ihre Ausreise. Oppositionelle Gruppen forderten öffentlich Reformen, verlangten eine "andere DDR". In der gesamten Republik demonstrierten die Menschen für freie Wahlen, Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Reisefreiheit. Am 6. November veröffentlichte die SED-Führung einen Reisegesetzentwurf. Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung.

    "Darin waren immer noch Reisen reguliert, es sollte insgesamt nur an 30 Tagen im Jahr gereist werden, und was die Menschen am meisten aufgebracht hat gegen diesen Gesetzentwurf, der vor Weihnachten dann in Kraft treten sollte, war, dass die Reisenden nicht mit Devisen ausgestattet werden sollten. Und in Leipzig auf der Montagsdemonstration am Abend des 6. haben die Demonstranten deshalb gerufen: 'Visafrei bis Hawaii', also Reisen ohne Genehmigung und vor allen Dingen auch die Ausstattung mit D-Mark gefordert."

    Tags darauf, am 7. November, trat die gesamte DDR-Regierung zurück, einen Tag später das Politbüro der SED. Am 9. November stimmte das Zentralkomitee der SED – eher nebenbei – einer neuen Reiseverordnung zu:

    "Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet: die Frage der Ausreisen."

    Egon Krenz, der Nachfolger Erich Honeckers, in den Nachmittagsstunden des 9. November auf der 10. Tagung des ZK der SED:

    "Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie ja früher auch die ungarischen. Und was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt."

    Der Politikwissenschaftler Hans-Hermann Hertle:

    "Es war ja eine Situation äußersten Drucks entstanden: Nach der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im September war seit dem 4. November auch die tschechoslowakisch-bayerische Grenze offen für DDR-Bürger. Und die tschechoslowakische Regierung übte jetzt extrem starken Druck auf die SED-Führung aus, diesen Ausreisestrom, der über Prag und die Tschechoslowakei nach Bayern ging, über ihre eigenen Grenzen zu regulieren. Und das war die Drucksituation, in der Krenz und Schabowski und das Politbüro kurzfristig beschlossen hatten, eine Reiseverordnung vorzeitig in Kraft zu setzen."

    Auf der live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz im internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße in Berlin-Mitte erklärte Günter Schabowski, im SED-Politbüro zuständig für Medien, auf Nachfrage kurz vor 19 Uhr:

    "Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."

    (Frage:) "Wann tritt das in Kraft?"

    "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

    "Die SED-Führung wollte die Mauer nicht einreißen, es war der Hektik geschuldet, ein Irrtum. Geplant war, dass das am 10. November erst bekannt gegeben werden sollte. Aber was eben sich noch dramatischer ausgewirkt hat, war, dass die Westmedien aus den verwirrenden Mitteilungen Günter Schabowskis dann die Schlagzeile getextet haben: 'DDR-Grenze ist offen'. Das heißt, die Medien haben so getan, als ob die Mauer schon offen sei, und das hat dann zu dem Ansturm auf die Grenzübergänge geführt."

    In den späten Donnerstagabendstunden des 9. November 1989 strömten zigtausende Menschen zur Mauer, durchbrachen die Grenzübergänge und wurden begeistert von Westberlinern begrüßt. Schaulustige erklommen das Brandenburger Tor, erste "Mauerspechte" schlugen mit Hammer und Meißel Löcher in den Betonwall. Hüben wie drüben feierten die Deutschen Verbrüderung nach 28 Jahren Mauerdasein. Zwei Wochen darauf hieß das Gebot der Stunde nicht mehr Reformierung der DDR, sondern: deutsche Einheit.