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Ausstellung "Aufbau Ost"
Sozialstudie aus der Nachwendezeit

Unter dem Schlagwort "Aufbau Ost" wurden nach der Wende die wirtschaftspolitischen Maßnahmen subsumiert, mit denen die Lebensverhältnisse der fünf neuen Bundesländer Anschluss an den Westen finden sollten. In Berlin widmet sich eine Ausstellung der Frage, wie Hass und Radikalisierung in den östlichen Ländern entstanden sind.

Von Martina Groß | 31.03.2016
    "Triangular Stories" von Künstlerin Henrike Naumann, Installationsansicht
    Die Installation "Triangular Stories" von Künstlerin Henrike Naumann. (Inga Selck )
    Wer vor dem großen Schaufenster der Galerie Wedding im gleichnamigen Berliner Bezirk steht, scheint in ein surreales Möbelhaus zu blicken, im Angebot: 90er-Jahre Jugendzimmer aus Ostdeutschland. Ein Zimmer mit Hochbett und darunter gebautem Schreibtisch, überall bunte Regale, Sperrholzvitrinen und Sideboards. Liegen und ausziehbare Bett-Couches. Uhren überall. Auf einem Wohnzimmertisch liegt ein Puzzle. Aus 1.000 Teilen kann man ein Foto zusammenlegen, es zeigt eine Halle für Flüchtlinge, vollgestellt mit Betten. DDR-Flüchtlinge:
    "Ja, also ich habe das Konzept für die Ausstellung "Aufbau Ost" vor über einem Jahr entwickelt und da ging es gerade los mit Pegida in Dresden und alle haben sich gefragt, woher kommt dieser Hass?"
    Henrike Naumann wurde 1984 in Zwickau geboren, sie ist in dem Vakuum der Nachwendezeit aufgewachsen und hat miterlebt, wie sich damals in den 90er-Jahren Jugendliche in ihrem Freundeskreis radikalisierten. Sie selbst hat zunächst in Dresden Bühnen- und Kostümbild studiert und dann in Potsdam Film.
    "Und da habe ich über ein Jahr lang recherchiert, habe auch vorher schon Arbeiten gemacht und das ist jetzt das erste Mal, dass ich die ganzen Arbeiten zusammen zeige und auch in so einen Zusammenhang bringe, also so ein ostdeutsches Psychogramm, durch das man sich durchbewegen kann."
    "Über ideologische Strukturen anders diskutieren"
    Die Wände der Zimmer sind mit Strukturtapete tapeziert, natürlich auch sie original 90er-Jahre. Auf einer Wand steht in Frakturschrift: "Wir sind das Volk", an einer anderen klebt über dem DDR-Emblem mit Hammer und Sichel ein Reichsadler. Auf dem bunt gemusterten Teppich liegt ein eiserner Baseballschläger.
    "Durch die Installation und durch die Möbel kann man über ideologische Strukturen anders diskutieren, weil man eben auch über Möbel spricht, weil man über Ästhetik spricht, oder Geschmack. Was macht das mit mir in dem Raum zu sein und die Möbel zu sehen?"
    Alle Räume sind Nachbildungen, Reenactments von Jugendzimmern, deren Fotos die Künstlerin auf Facebook gefunden hat. Sie stecken voller Details: die Glasvitrine, in der familiäre Erinnerungsstücke stehen, das Heldenbild aus dem Ersten Weltkrieg über dem SS-Aschenbecher, eingerahmt von kitschig eiförmigen Kerzen. Identitäten, zusammengebastelt aus Devotionalien deutscher Geschichte. Schwarz-Weiß-Fotos von einer Kindheit in der DDR, ein Nintendo auf einem Ecktisch. Alles wirkt irgendwie zusammengewürfelt und strahlt trotz der schieren Masse eine seltsame Leere und Kühle aus. Henrike Naumann fragte sich während ihrer Recherche:
    "Inwieweit wurden im Prinzip demokratische und freiheitliche Werte verwechselt mit der Freiheit zu kaufen und mit der Freiheit zu besitzen, und dieses Missverständnis schlägt sich jetzt nieder, wenn man den Mob von Heidenau sieht, wo man sich fragt, wo ist die Menschlichkeit, wo sind die demokratischen Werte?"
    Fährten durch das komplexe Geflecht deutscher Geschichte
    Die 90er-Jahre in den fünf neuen Bundesländern als Schnelldurchlauf des Neoliberalismus? In fast allen Räumen stehen Fernseher, materialisierter Versprechungen des vereinigten Deutschlands. VHS-Videos flimmern über die Bildschirme - "Triangular Stories" von 2011 zum Beispiel, eine persönliche Auseinandersetzung mit dem NSU, der in Naumanns Geburtsort Zwickau seinen Ursprung hat. Es ist eine von mehreren Video -und Audioarbeiten, die in die Räume integriert sind.
    In all ihrem Detailreichtum regt die Ausstellung zu einer Auseinandersetzung, einem Ost-West-Diskurs an. Einfache Antworten gibt es nicht, aber Naumann legt Fährten durch das komplexe Geflecht deutscher Geschichte, das sie mit der Audiodokumentation "Dezolation", dem Missionierungsversuch des radikal-islamistischen Rappers Dezo Dog um die Fragestellung von migrantischer Identität und Radikalisierung noch einmal erweitert.
    "Aufbau Ost" ist eine kluge und wichtige Ausstellung, der man eine größere Öffentlichkeit wünscht, als eine kleine kommunale Galerie in Wedding. Andererseits ist der multikulturelle Berliner Bezirk mit seiner sozialen Sprengkraft wiederum auch genau der richtige Ort.