Dienstag, 19. März 2024

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Ausstellung "Feelings - Kunst und Emotion"
Wie wirken Bilder ohne Schilder?

Keine Texte, keine Audioguides, nicht mal Titel: Die Münchner Pinakothek der Moderne lässt Kunst unkommentiert auf die Betrachterinnen und Betrachter los. Der Versuch, die Bilder allein wirken zu lassen, wird ihnen manchmal nicht gerecht - ist aber trotzdem eine Befreiung.

Von Barbara Bogen | 13.11.2019
Eine Wandmalerei des Kollektivs "3 Hamburger Frauen" (Wandmalerei, 2-teilig, je 500 x 1000 cm)
Für München entstanden: Wandmalerei des Kollektivs "3 Hamburger Frauen" (Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Johannes Haslinger)
Der wohl faszinierendste Raum in dieser Ausstellung ist der letzte. Vor tiefgrüntürkisfarbigen Wänden hängt nur ein einziges Bild, offenbar Öl auf Leinwand. Es ist das Porträt eines Mannes. Die Grundfarbe des Bildes ist Rot, komplementär also zu den Wänden. Der Mann auf dem Bild blickt den Betrachter unmittelbar an, sein Blick kommt aus schmalen verengten Augen und suggeriert - oder ist das nur die eigene subjektive Assoziation? - etwas verhohlen Tückisches, Aggressives. Unter seinem blutroten Haar klebt schräg ein weißer Fleck. Eine Blindstelle in seiner Wahrnehmung vielleicht? Der symbolisch eingezeichnete Verlust der Erinnerung oder des Bewusstseins?
Der Betrachter weiß es nicht. Auch liefert ihm die Ausstellung keinerlei Hinweis auf den Titel des Bildes, wann es entstanden ist oder wer es gemalt hat. Der Besucher des Museums ist allein mit dem Bild, ohne Kenntnisse, ohne Erklärungen, ohne Information. Kuratorin Nicola Graef:
"Das ist ein Experiment erstmals tatsächlich. Wir verzichten auf jeden Text, jeden Audioguide, jede Information, und wünschen uns vom Publikum, dass es sich wirklich ganz einlässt auf das, was es sieht und dass es intuitiv spürt, was uns zu Menschen macht, nämlich unsere Gefühle."
Fabelhafte und schockierende Exponate
Dass das Porträt des Mannes in Rot von der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas stammt, im Jahr 1986 entstand und "The Accident" heißt, also "Der Unfall", erfährt der Museumsbesucher dann natürlich doch. Auf einem Touchscreen lassen sich einige wenige Grundinformationen in Erfahrung bringen. Aber das Konzept der Präsentation will den Besucher zurückführen auf seine unmittelbare Wahrnehmung, Konzentration und Emotion.
Eine Wandmalereie des Kollektivs "3 Hamburger Frauen" (Wandmalerei, 2-teilig, je 500 x 1000 cm)
Eine von zwei Wandmalereien des Kollektivs "3 Hamburger Frauen" (Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Johannes Haslinger)
Sieben Ausstellungsräume variieren in ihrer Farbigkeit jeweils radikal: Zinnoberrot, ein dunkles Rot, Blaugrün. Der Besucher kann sie wie einen Parcours der Entdeckungen durchlaufen. Rund 80 Arbeiten haben die Ausstellungsmacher zusammengeführt - ein Großteil aus den Beständen des Hauses, dazu einige Leihgaben. Die zweiteilige zehn Meter hohe Wandmalerei "Drei Hamburger Frauen" ist eigens für die Ausstellung entstanden. Es sind Arbeiten in Öl, Foto-Sequenzen, Videos, Installationen, Assemblagen, Fayencen von 40 Künstlern und Künstlerinnen aus den letzten 50 Jahren.
Neben unbekannteren stehen berühmte Namen: Tadeusz Kantor und Gotthard Graubner, Robert Morris, Elmgreen und Dragset, Tracey Emin, Rosemarie Trockel. Aber unabhängig von der Popularität mancher Künstler ist hier eine Ausstellung mit beinahe ausschließlich fabelhaften, betörend inspirierenden zum Teil auch schockierenden Exponaten gelungen, bei deren Betrachtung und Reflexion Bekanntheitsgrad, Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Nationalität der Künstler plötzlich keine Rolle spielen.
Keine Hintergrundinformationen
Natürlich ist dieses Konzept auch angreifbar und man kann sich die Frage stellen, ob es nicht doch von Relevanz ist, dass sich etwa hinter dem Porträt der scheinbar schlafenden Kinder - einer Arbeit der Japanerin Miwa Ogasawara - die toten Kinder des Nazipaares Goebbels* verbergen, deren historische Fotografie die Künstlerin zum Vorbild nahm. Man kann bedauern, zunächst einmal nicht zu wissen, dass hinter den von Ruprecht von Kaufmann gemalten tieftraurigen Gesichtern die Physiognomien syrischer, irakischer und afghanischer Flüchtlinge stehen. Ungeachtet dessen aber bewirkt diese durch ihre an die Naivität appellierende und daher riskante Ausstellung etwas kolossal Spannendes. Denn die Räume werden zu Erfahrungsräumen, auch Selbsterfahrungsräumen, Freiräumen des Denkens und Empfindens. Kurator Bernhart Schwenk:
"Dass man der Kunst vertraut, dass man erstmal überprüft, was macht das mit mir? Bevor man fragt, wer hat das gemacht?"
Abschaffung der Autoritäten
Die Emotionsforschung ist jung, seit der Aufklärung begreift sich der Mensch als vorwiegend rationales Wesen. Alles, auch Kunst wird konsequent kategorisiert. Der Kunstmarkt setzt die Preise: ein kapitalistisches, allgemein als konsenstauglich erachtetes Kriterium, das man locker als obszön bezeichnen kann. Hier in der Ausstellung werden ganz im Nebenbei Autoritäten abgeschafft, die Deutungshoheit jedem einzelnen, seiner/ihrer Subjektivität überlassen. Der Markt, die Autorität des Kunsthistorikers, sogar die Autorität des Künstlers, der hinter dem Kunstwerk verschwindet, werden zumindest zeitweise ignoriert. Kurzum: ein tolles, gewagtes, unbedingt sehenswertes Ausstellungsexperiment.

* Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung wurde ein historisch inkorrekter Name genannt. Das Audio wurde um die entsprechende Passage gekürzt.