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Ausstellung in Berlin
Ein Fest für Kafkaologen

Die Ausstellung "Franz Kafka. Der ganze Prozess" im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt, dass die labyrinthische Welt von Kafkas Jahrhundertroman ihr Pendant im Schreibprozess hatte. Ganz in der Nähe des Ausstellungsorts soll der Schriftsteller übrigens den entscheidenden Anstoß zu "Der Prozess" erfahren haben.

Von Cornelius Wüllenkemper | 29.06.2017
    Originale Schriftstücke des Schriftstellers Franz Kafka liegen in Berlin in einer Vitrine aus.
    Um Kafkas Manuskripte zum "Der Prozess" ranken sich viele Mythen. (dpa / Sophia Kembowski)
    Im damaligen Hotel Askanischer Hof löste Franz Kafka 1914 seine Verlobung mit Felice Bauer. Man hatte ihm nachgewiesen, welche Zweifel er gegen seine Verlobte und die Ehe allgemein hegte. Kafka sprach von einem "Gerichtshof im Hotel." Wenig später begann er die Arbeit an "Der Prozess". Die Hauptfigur Josef K. sieht sich einer ominösen, ebenso ungreifbaren wie bedrohlichen Organisation gegenüber, die einen "Prozess" gegen ihn anstrengt.
    Der Verbleib des Manuskripts ist eine Geschichte für sich
    171 mit Füllfederhalter verfasste Manuskriptseiten, 51 fremdsprachige Ausgaben auf Chinesisch, Urdu, Hindi, Arabisch, Mongolisch oder Baskisch und vieles mehr: Kafkas Jahrhundertroman "Der Prozess" wird in aller gebotenen Breite aufgerollt. Der Verbleib des Manuskripts, das Kafka 1915 als "künstlerisch misslungene Versuche" unvollendet ließ, ist dabei eine Geschichte für sich: Nach Kafkas Tod 1924 veröffentlichte sein Vertrauter Max Brod den Text gegen den Willen des Autors und rettete das Manuskript später vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag. Von Palästina aus gelangte es während der Suez-Krise 1956 in ein Bankschließfach in Zürich, später nach London. Ein Jahrhundertroman in jeder Hinsicht also.
    Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ersteigerte das Original 1988 schließlich für 3,5 Millionen Mark. Dessen heutiger Leiter Ulrich Raulff ist überzeugt: "Aus dem 20. Jahrhundert bleiben am Ende vielleicht noch zwei, drei Namen dieses Bekanntheitsgrades und auch dieses Autographen-Marktwerts. Das sind neben Kafka vielleicht noch Proust und Joyce."
    Die besondere Beziehung zu Berlin
    Nach der Bodleian Library in Oxford hält das Literaturarchiv heute die wichtigsten Kafka-Manuskripte. Bereits 2013 war die Ausstellung zum "Prozess" in Marbach zu sehen. Gereon Sievernich, der Direktor des Martin-Gropius-Baus, liefert seine Erklärung für die leicht erweiterte Neuauflage der Schau in Berlin: "Das musste man einfach mal tun. Und dass dieses Manuskript, dass ja auch so einen topographische Bedeutung hat für diese Region hier hat - also es gibt doch viele Gründe. Kafka wollte immer nach Berlin. Das eine waren die Frauen, also immer wieder die Verlobung in Berlin. Das zweite: ich will aus meinem Job raus und freier Schriftsteller werden. Das war sein großer Traum!"
    Das Prestige des Kafka-Manuskripts dürfte ebenso eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Neben den 171 Manuskriptseiten in Glasvitrinen ist die 1997 erschienene historisch-kritischen Ausgabe von Roland Reuss und Peter Staengle auf Bildschirmen zusehen. Im Nebenraum läuft die immer wieder sehenswerte Verfilmung von Orson Welles. Erstmals zeigt die Ausstellung auch eine Auswahl von Fotos aus der Sammlung Klaus Wagenbach, etwa von Kafkas Großvater, einem Fleischhauer aus Süd-Böhmen.
    Korrespondenzen und Kafkas Schreibmaschine
    "Franz Kafka wusste also, was ein Fleischermesser ist, und es ist also durchaus auf seinen Erfahrungshorizont zu beziehen, wenn Josef K. am Ende des Prozesses mit einem solchen Messer dann gerichtet werden soll", meint Co-Kurator Hans-Gerd Koch. In einer Glasvitrine ist neben Korrespondenzen des Versicherungsangestellten Kafka auch ein Schreibmaschinentyp zu sehen, wie er ihn benutzt haben soll. Die gedankliche Verbindung zum "Prozess" bedarf hier einiger Akrobatik oder eben Ehrfurcht vor der Romanfigur Kafka. Trotz der rund 10.000 Sekundärwerke zum "Prozess", sei die Geschichte des Romans längst nicht auserzählt, ist Hans-Gerd Koch überzeugt.
    Originale Schriftstücke des Schriftstellers Franz Kafka liegenin Berlin in mehreren Vitrinen aus. Im Hintergrund ist eine Leuchtwand zu sehen.
    Originalmanuskriptseiten sind unter Glasvitrinen zu sehen. (dpa / Sophia Kembowski)
    "Er hatte die schmerzliche Erfahrung gemacht in den zurückliegenden Jahren, dass er einen großen Text nicht zu Ende bringen kann. Und dem wollte er vorbeugen hat gleich bei der Niederschrift des Prozess-Romans den Rahmen gesetzt: erstes und letztes Kapitel. Es war also klar, wo es hingehen sollte. Und dann musste er doch erkennen, dass er sich verrannt hatte und auf dieses Ende nicht zukam. Und das kann man sehen. Dort, wo er gelöst schreibt, ist auch die Schrift gelöst. Und dort, wo er sich festschreibt, wo er nicht weiterkommt, da wird es dann auch sichtbar in der Handschrift."
    Spannende Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte
    Die Manuskripte machen nachvollziehbar, wie die labyrinthische Welt von Kafkas Roman ihr Pendant im Schreibprozess hatte. Und natürlich lassen sich anhand der Anmerkungen, Streichungen und der Eingriffe des Erstherausgebers Max Brod spannende Erkenntnisse über die Entstehungs- und Editionsgeschichte belegen. Dennoch ist die Schau weder eine kuratorische Sensation, noch wartet sie mit inhaltlichen Überraschungen auf – wie auch, über Kafka ist kaum etwas Neues zu sagen.
    Zurück bleibt der Eindruck des Anekdotischen, ja der Sakralisierung eines Autors, der längst zur Figur in den Vorstellungswelten seiner Verehrer geworden ist. Immerhin regt die Schau an, Kafkas ungeheuerlichen Text erneut sprechen zu lassen, über einen ebenso müden wie rastlosen modernen Menschen auf der Suche nach einer Erklärung für das verstörende große Ganze.