Freitag, 19. April 2024

Archiv

Ausstellung in Reutlingen zu Bürokunst
Trauriger Angestellter, glücklicher Künstler

Kunst ist für Ignacio Uriarte Vergangenheitsbewältigung. Der 47-Jährige setzt sich in seinen Werken nämlich mit dem Beruf auseinander, der ihn unglücklich gemacht hat: Büroangestellter. Eine Ausstellung in Reutlingen zeigt, wie er sich aus der Stupidität befreit hat.

Von Christian Gampert | 08.08.2019
Besucher betrachten die Arbeit "Ringbinder Circle" des deutsch-spanischen Künstlers Ignacio Uriarte auf der ARCO International Contemporary Art Fair in Madrid, Spanien, 28 February 2015
Wie in Stonehenge - Ignacio Uriarte arbeitet mit Aktenordnern und Papierkugeln (EPA / Ballesteros )
Heute ist auch im Büro alles digital und an den großen Datenstrom angeschlossen. Und doch hat jeder Schreibtischarbeiter noch immer mit Papier und Bleistift zu tun, mit Notizen und leeren Blättern, die man falten, stapeln, beschriften, zerknüllen und auch wegwerfen kann. Bei dieser stillen Poesie toter Dinge setzt Ignacio Uriarte an.
Wenn man ein winziges Blatt Papier zerknüllt und zu einem Kügelchen formt, entsteht eine skulpturale Form. Wenn man aus den Kugeln im Museum einen Kreis bildet, entsteht eine magische Figur. Wenn man ein DIN-A-4-Blatt diagonal faltet und wieder glatt zieht, hat man eine Linie, eine Aufwölbung. Wenn man, wie Uriarte, 480 solcher Blätter an die Wand klebt und die Linien aneinander anschließt, wirkt das wie ein abstraktes Panorama, eine Landschaft.
Kapital schlagen aus der Vergangenheit
Ignacio Uriarte arbeitet mit solch einfachen Prozessen. Und man geht nun durch die Reutlinger Ausstellung und staunt, dass man aus fast nichts etwas machen kann.
"Für mich ist meine künstlerische Arbeit so etwas wie Vergangenheitsbewältigung. Ich war damals als Büroangestellter nicht sehr glücklich und hab dann beschlossen, als ich Künstler wurde, dass ich aus dieser Vergangenheit Kapital schlagen möchte."
Uriarte schließt an Minimal Art und konkrete Kunst an, aber er macht etwas ganz Eigenes daraus. Er beschränkt sich auf kleine, spielerische Gesten. Das Ausprobieren spielt eine große Rolle, das Zeichnen, das Kritzeln, aus dem sich plötzlich dann etwas entwickelt: sich überlagernde Formen, Farbabstufungen, Verdichtungen, Moiré-Effekte, geometrische Überraschungen.
Stupides Tippen zeigt Monotonie
Ausgangspunkt vieler Arbeiten ist die Schreibmaschine. Der Verwaltungsangestellte hat wenig zu sagen, aber er kann einen Punkt setzen. Und damit doch eine Spur, einen Abdruck hinterlassen. Die extreme fotografische Vergrößerung getippter Punkte, von verschiedenen Maschinen in unterschiedlicher Stärke erzeugt, führt zu einem großen seriellen Kunstwerk. Und das stupide Tippen signalisiert natürlich auch das gleichförmige Vergehen der Zeit.
Die Uhr läuft. Im Büro vergeht Zeit, viel Zeit. In dieser Klang-Installation von Ignacio Uriarte erzeugen sechs Schreibmaschinen jeweils eigene Sounds, die zu unterschiedlichen Takten gebündelt sind und immer komplexer werden. Die Klang-Skulptur fängt simpel an, wird immer dichter und geht dann zum Einfachen zurück. Dann beginnt der Loop wieder von vorn.
Man könnte darin auch einen harten Arbeitstag sehen, der sich ständig wiederholt. Und doch ist das, was Uriarte gerade in seinen graphischen Arbeiten vorführt, eine Art Emanzipation aus der Knechtschaft des Büros, sagt Kurator Holger Kube Ventura.
"Ehrlich gesagt finde ich, dass diese Kunst heroisch ist. Man denkt an diese stupiden Bürotätigkeiten und sieht hier, wie sich jemand daraus befreit. Die Langeweile beim Kritzeln am Telefon wird hier plötzlich zu einem riesengroßen Fest der Ästhetik."
Simples Büromaterial
Uriarte nimmt etwa die natürliche Handgelenks-Bewegung beim Zeichnen zum Ausgangspunkt eines Werks und erzeugt daraus wellenartige Serien. In einer der genialsten Arbeiten werden aus vier rechtwinkligen Zeichen-Dreiecken, also simplem Büromaterial, immer überraschendere geometrische Formen kreiert – das wirkt wie ein hermetisches Gedicht oder wie Variationen einer mathematischen Formel. Uriarte legt auch Gummiringe, sogenannte Schießgummis, zu einem gleichförmigen Muster auf den Boden, einem Teppich, der aussieht wie die schuppige Haut eines Reptils. Oder er stellt Aktenordner zu einem rituellen Kreis zusammen, als wären wir in Stonehenge.
Bei vielen Arbeiten Uriartes denkt man an Kafka und an dessen Leiden am Büro. Uriarte aber befreit sich durch sehr kleine zeichnerische Gesten vom Druck der übermächtigen Institution. Und nebenbei wirken seine Arbeiten wie Reprisen biologischer oder kybernetischer Modelle, die unser Leben in den Tiefenschichten bestimmen.