Mittwoch, 24. April 2024

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Ausstellung über Harry Graf Kessler
Christoph Stölzl: "Ohne Kessler kein Van de Velde nach Weimar"

Das Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor in Berlin hat dem Kunstsammler, Schriftsteller und Diplomaten Harry Graf Kessler (1868-1937) eine Ausstellung gewidmet. Für Kurator Christoph Stölzl, Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, war Kessler mit seinem rastlosen Leben zwischen Berlin, Weimar, Paris und London ein Phänomen, wie er im DLF sagte.

Christoph Stölzl im Gespräch mit Antje Allroggen | 20.05.2016
    Der Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Christoph Stölzl, steht am 06.02.2014 in Weimar (Thüringen) vor dem Fürstenhaus, in dem sich die Musikhochschule befindet. Stölzl feiert am 17. Februar seinen 70. Geburtstag.
    Der Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar, Christoph Stölzl. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Antje Allroggen: Harry Graf Kessler hatte viele Gesichter. Ein Gesellschaftskünstler, der sich in jungen Jahren gerne auch als Dandy inszenierte und sich mit Grandezza über wirklich jedes gesellschaftliche, kulturelle und politische Parkett bewegte. Er war in Paris und London ebenso zuhause wie in Berlin oder Weimar. Ein Kunstsammler, Mäzen, Schriftsteller, Publizist und Diplomat, der 1868 als Harry Kessler in der französischen Hauptstadt geboren wurde und 1937 in Lyon, längst zum Grafen geadelt, starb.
    Das Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor widmet ihm nun eine Ausstellung, die die verschiedenen Facetten dieses "Touche à tout" beleuchten will. Christoph Stölzl, Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar, hat die Berliner Ausstellung kuratiert, und ich habe ihn zunächst gefragt, auf welche Art und Weise sich Harry Graf Kessler durch seine Zeit, die Frühmoderne, bewegt hat.
    Christoph Stölzl: Er war ein ruheloser, rastloser Mensch, ist pausenlos mit Schnellzügen zwischen Berlin, Weimar, Paris und London hin und hergeeilt, oft mehrmals in der Woche, also ein Phänomen, was man sich gar nicht genau vorstellen kann, wann der eigentlich geschlafen hat, denn da hatte er auch noch manisch Tagebuch geschrieben und dazwischen Politik gemacht, Künstler vermittelt, nachgedacht und pausenlos mit den Spitzen der Gesellschaft geluncht und gefrühstückt. Rein physisch ist das ein Phänomen, das man schwer erklären kann, aber er hat es geschafft.
    Allroggen: Das klingt fast so, als könnte er sich heute auch ganz gut zurechtfinden. - Sie bezeichnen Harry Graf Kessler in Ihrer Ausstellung dennoch als Flaneur, der seinen Spazierstock dabei hatte, vielleicht dann doch eine gewisse Gemütlichkeit, der sich aber doch auch für die Politik interessierte. Passt der Begriff da?
    "Er glaubte, von Weimar aus Wilhelm II. aushebeln zu können"
    Stölzl: Flaneur ist eigentlich eher metaphorisch gedacht, weil er sich auf erstaunlich geschmeidige Weise zwischen den verschiedenen Milieus bewegt hat. Ulanen-Offizier in Potsdam mit den berühmten Liebesmählern, wo patriotisch getafelt wurde, dann die Arme-Leute-Ateliers, wo Edvard Munch am Verhungern war, dann die großbürgerlichen Salons wie bei Liebermann am Brandenburger Tor - das Flanieren ist dieses leichte Grenzen überschreiten, das für diese Zeit, wo die Kasten und Stände doch noch sehr stark geschieden waren, ganz erstaunlich gewesen ist.
    Allroggen: Diese Leichtigkeit, wie Sie sagen, beim Grenzüberschreiten versuchte er ja auch in Weimar. Er träumte davon - 1903 war er dort hingekommen als Leiter des dortigen Museums für Kunst und Gewerbe -, ein neues Experimentierfeld für sich zu erarbeiten. Sie leben und arbeiten auch in Weimar. Hat Kessler dort bis heute sichtbare Spuren hinterlassen? Gibt es Parallelen?
    Stölzl: Ja natürlich! Ohne Kessler kein Van de Velde nach Weimar. Er hat das ja gedealt, wie man sagen würde, mit Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester von Nietzsche. Und Van de Velde hat auch sich hart durchkämpfen müssen. Aber diese ganze Idee, dass man eine Reformkunstschule dort macht, die die gesamten Lebensbereiche neu machen, das stammt ja von Van de Velde und ist von Gropius dann übernommen worden. Hier hat Kessler trotz dieser sehr kurzen Zeit, dieser drei Jahre, wo es rund ging, doch bleibende Spuren hinterlassen.
    Allroggen: Trotzdem ist sein Konzept dort ja auch gescheitert als Kontrapunkt zur nationalistischen Kulturpolitik in Weimar.
    Stölzl: Krachend gescheitert, das kann man sagen. Das ist ja unglaublich. Wir zeigen in der Ausstellung, was er da in diesen drei Jahren alles gezeigt hat, von Bonnard über Renoir über Gauguin über Rodin über Maillol. Das kann man gar nicht sich vorstellen. Wenn der Großherzog nicht so eng gewesen wäre, hätte alles gekauft - das kostete ja damals ganz wenig -, dann stünde das MOMA und die Nationalgalerie in Weimar und nicht in New York. Das ist schon interessant und der Sturz über eine angeblich pornografische Ausstellung von Rodin-Zeichnungen, über die man heute nur den Kopf schütteln kann, das ist ja alles eigentlich ein Treppenwitz. Aber man sieht natürlich, wie unglaublich verrückt ist ein falscher Ausdruck, aber fantasievoll Kessler gewesen ist. Er glaubte, von dem winzigen Weimar aus den großen Wilhelm II. aushebeln zu können. Das war natürlich ganz schön mutig.
    "Wir gehen in den Kopf von Kessler hinein"
    Allroggen: Wir machen es jetzt wie Kessler und flanieren schnell weiter nach Berlin. Dort schreibt er ja auch an seinen Tagebüchern, in denen er keine selbstverliebten Introspektionen betreibt, sondern über Personen spricht, wichtige Personen. Kommen die in Ihrer Ausstellung auch zu Wort?
    Stölzl: Ja. Panorama, 15.000 Seiten Tagebuch, auf denen 12.000 Personen vorkommen mit unglaublich tollen Beschreibungen zum Teil. Wir haben in der Ausstellung eine Kunstausstellung, wo die Reste der Sammlung rekonstruiert werden. Wir gehen in den Kopf von Kessler hinein mit so einer Art Laterna-Magica-Höhlen, wo seine Stimme aus der Wand kommt und man sieht und hört, was er gesehen und gehört hat. Und wir haben so ein großes Spielzeug, ein großes Display, wo man diese Personen anwählen kann und dann die Charakteristiken von Kessler erzählt bekommt. Das ist sehr medial, das Ganze, weil wir sagen, das Tagebuch ist sein bleibendes Hauptwerk. Das ist wirklich ein großer Erfolg, auch wenn er das jetzt nicht mehr erleben konnte.
    Allroggen: In diesen Kopf möchte man gerne einmal einsteigen. - Über die Ausstellung "Harry Graf Kessler - Flaneur durch die Moderne" sprach ich mit dem Kurator der Schau, Christoph Stölzl. Die Stiftung Brandenburger Tor zeigt die Schau in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Klassikstiftung Weimar.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.