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Ausstellung zu russischer Kunst
Nonkonforme Außenseiter

Sozialistischer Realismus hieß der staatlich diktierte Kunststil in der Sowjetunion. Doch es gab auch Künstler, die ihren eigenen Weg gingen. Eine Ausstellung in Fürstenfeldbruck entdeckt diese "Nonkonformisten" wieder - und zeigt auch Werke der nachfolgenden Künstlergeneration.

Von Julian Ignatowitsch | 04.02.2020
Ein Mann in dicker Winterkleidung und Stiefeln liegt auf dem Rücken im Schnee
Das Bild von Vladimir Kurdyukov entzieht sich einer eindeutigen Interpretation - typisch für die Kunst der russischen Nonkonformisten. (Sammlung Breitscheidel, Foto: Wolfgang Pulfer)
Ein Mann im Schnee: Er liegt am Boden, mit dicker Jacke und festen Schuhen. Sein Gesichtsausdruck starr, weiße Flocken fallen auf ihn nieder. Ist er tot? Schläft er? Oder macht er einfach eine Pause?
Gleich drei Titel trägt dieses optisch eindrucksvolle, aber auch verstörende Werk des russischen Malers Vladimir Kurdyukov, erklärt Kuratorin Verena Beaucamp:
"Das heißt 'Ruhm zur Arbeit’ oder ‚Die Nostalgie‘ oder ‚Die Meditation auf Russisch‘. Damit hat er dem Betrachter mit einem ironischen Augenzwinkern verschiedene Dinge an die Hand gegeben. Es gibt auch mehrere Versionen von diesem Bild. Man hat verschiedene Assoziationen und stellt sich verschiedene Fragen - und das ist typisch für die Kunst Kurdyukovs."
Mehrdeutige Bilder
Typisch für die Kunst aller nonkonformen russischen Maler, die wir hier in der Ausstellung sehen. Ob kritisch, ironisch oder einfach nur persönlich: Die 80 Werke der neun Künstler eint, wie bei Kurdyukovs anspielungsreichem Mann im Schnee, eine Bedeutungsoffenheit, eine Mehrdeutigkeit. Sie lassen sich nicht auf eine Interpretation oder einen Stil festlegen, wollen sich nicht festlegen lassen. Und genau das macht sie zu nonkonformer Kunst - so die plausible These der Schau:
"Was interessant ist, dass sie eben, obwohl sie 'nonkonform' heißen - wo man meint, die Malerei müsste sehr radikale und revolutionäre Inhalte haben - dass das nicht so ist. Die Inhalte zeichnen sich wie bei westlichen Künstlern durch eine große Bandbreite aus. Es gibt natürlich mal politische Zitate oder Anklänge. Aber die meisten Bilder haben sehr persönliche Inhalte, sind Landschaften, sind Porträts oder abstrakte Bilder. Deswegen muss man mit dem Vorurteil aufräumen, dass man sagt, russische nonkonforme Kunst muss unbedingt politische Inhalte haben."
Ein guter, aber auch nicht ganz neuer Ansatz. Denn schon der wenig bekannte russische Maler Dmitri Krasnopewzew sagte, jeder Nonkonformist sei "eine Insel, ein unabhängiges Land, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt, unter seiner eigenen Fahne".
Die Künstler wurden unter der Staatsdoktrin des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion ausgegrenzt und isoliert. Eine Erfahrung, die ihr Leben bis heute prägt. Auch wenn sie, wie der jüngste gezeigte Künster, Nikita Knikta, Jahrgang 1979, in Deutschland sozialisiert wurden.
Menschen drängen sich hinter einer Mauer mit Stacheldraht, über ihnen ein schwarzer Himmel mit weißen Zacken 
Valery Valius zählt zur zweiten Generation der russischen Nonkonformisten: "Die Flüchtlinge" aus dem Jahr 2015 (Sammlung Breitscheidel, Foto: Wolfgang Pulfer)
Die Bilder sind der anschauliche Beweis: Da ist zum Beispiel der sehr humorvolle und vordergründig naiv malende Valery Valius, der mal fliegende Engel und sinnliche Fantasiewesen im Stil von Marc Chagall malt, dann ein höllisches Inferno wie bei Francis Bacon.
Oder Ivan Olasiuk, der mit seinen schnellen, gestischen Pinselstrichen an die Abstrakten Expressionisten erinnert und auch Alltagsgegenstände und Lebensmittel wie gemahlenen Kaffee oder Eierschalen in seinen Gemälden verwendet. Man denkt an Paul Klee, Willem de Kooning oder Cy Twombly und meint zwischenzeitlich fast, in einer Überblicksschau zur westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts zu stehen. Kuratorin Verena Beaucamp erläutert:
"Ausdrücklich knüpfen sie an die Klassische Moderne an. Es gibt Anklänge an Picasso, an die Expressionisten. Und das ist etwas, was in Russland auch nonkonform ist: Diese Malerei war lange Zeit nicht akzeptiert, nicht gewürdigt. Die große Überschrift ist eigentlich dieses Streben nach Freiheit in der Kunst."
Einflüsse aus West und Ost
Dass dabei immer wieder typisch russische Ikonen auftauchen - ein Lenin-Konterfei, Hammer und Sichel, der fünfzackige Rote Stern oder mosaikartige Formen, die an orthodoxe Sakralbilder erinnern, wie bei Alexander Ossipov - eine weitere Entdeckung der Schau - macht die Werke zu einzigartigen Schimären zwischen West und Ost.
Die gezeigten Künstler sind bis heute allesamt kaum bekannt oder auf dem Kunstmarkt gehandelt, weder in Russland noch in der restlichen Welt. Die Künstlerin Lusine Breitscheidel, aus deren Fundus fast alle gezeigten Bilder stammen, wurde so auch eher zufällig zur Sammlerin. Sie kennt einige der Künstler persönlich, bekam manches geschenkt und bei der Ausfuhr nach Deutschland auch immer wieder von Amtswegen bestätigt, dass die Werke für den russischen Staat wertlos sind. Sie sagt: "Jedes einzelne von diesen Gemälden ist gemalt, ohne den Zweck es verkaufen zu müssen. Das ist die Seele des Künstlers, die haben es gemalt, weil sie es so wollten."
Nonkonform heißt also auch: ohne kommerziellen Hintergedanken, ohne Agenda, ohne Advokat. Und dass ein kleines Museum in Fürstenfeldbruck diesen Außenseitern Platz bietet, ist erfreulich und aufschlussreich zugleich.