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Auswege aus dem Armutsdesaster

Unter dem Titel "Brandt-Report" forderten die Mitglieder der Nord-Süd-Kommission 1980 eine stärkere Integration der armen Länder in die Weltwirtschaft, verlangten gleichzeitig aber von den reichen Nationen ein stärkeres finanzielles Engagement. Gedanken, die auch heute noch erstaunlich aktuell sind.

Von Mirko Smiljanic | 25.10.2010
    So etwas hatte es noch nie gegeben: Als am 12. Februar 1980 Willy Brandt den Vereinten Nationen den Abschlussbericht der Nord-Süd-Kommission vorlegte, ging eine Welle der Begeisterung durch die Welt. Lehrer und Professoren an Schulen und Universitäten diskutierten den 380 Seiten langen Report; landauf, landab organisierten Volkshochschulen und Kirchen Foren einzig mit dem Ziel, die Thesen von Olof Palme, Eduardo Frei, Edward Heath, Rodrigo Botero, Adam Malik und einigen anderen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Brandt-Report hatte eine befreiende Wirkung, formulierte er doch auf hohem politischen Niveau, was damals intellektueller Mainstream war: dass der Norden den Süden ausbeutet – und er formulierte Auswege aus dem Desaster.

    Willy Brandt: "Inzwischen ist es, glaube ich, von entscheidender Bedeutung, dass die Länder der Dritten Welt nicht den Eindruck bekommen dürfen, als seien sie nur Bauern auf den strategischen Schachbrettern der großen Mächte."
    Die Kommission verfolgte zwei Zielrichtungen: Erstens ging es darum, den Mechanismus der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden aufzuzeigen – wobei Brandt schon damals das vereinfachende Bild 'reicher Norden – armer Süden' kritisierte: Zum Süden zählten auch reiche Länder wie Australien und Neuseeland, und am Horizont machte sich schon damals Brasilien als Schwellenland bemerkbar. Und zweitens wollte die Kommission konkrete Vorschläge unterbreiten, um die beide Hemisphären politisch, ökonomisch und sozial zu versöhnen.

    Ob es uns passt oder nicht: Wir sehen uns mehr und mehr Problemen gegenüber, welche die Menschheit insgesamt angehen, sodass folglich auch die Lösungen hierfür in steigendem Maße internationalisiert werden müssen. Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erfordern eine Art 'Weltinnenpolitik', die über den Horizont von Kirchtürmen, aber auch nationalen Grenzen weit hinausreicht.
    Ambitionierte Ideen angesichts einer sich dramatisch zuspitzenden 'Weltinnenpolitik': Die Sowjetunion führte Krieg in Afghanistan, wodurch die Ost-West-Krise den zaghaften Nord-Süd-Dialog wieder einmal in den Schatten stellte. Es war eine denkbar ungünstige Zeit für weitreichende Forderungen. Zu den Wichtigsten zählten die Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes, ein internationales Abkommen zur Sicherung der Energieversorgung, ein Nahrungsmittelprogramm für die ärmsten Länder, eine Reform des Weltwährungssystems, die Liberalisierung des Welthandels und eine internationale Steuer, die den Ländern der Dritten Welt zugutekommen sollte. Radikale Forderungen, die sich nur mühsam durchsetzen lassen würden – was Brandt übrigens schon damals durchaus bewusst war. Vorschläge wie der, Gewinne aus dem internationalen Waffenhandel in Entwicklungsprojekte umzuleiten, wirken aus heutiger Sicht fast naiv. Und doch hat der Brandt-Report schon damals den Fokus auf Probleme gelegt, die noch heute ungelöst sind.

    Willy Brandt: "Dass unsere eigenen – unsere, ich meine der westlichen Welt - wirtschaftliche Zukunft, die Sicherung unserer Arbeitsplätze, besser gesagt: der Arbeitsplätze unserer Kinder und Enkel, in hohem Maße davon abhängt, dass und in welchem Maße unsere wirtschaftliche Verknüpfung mit anderen Teilen der Welt forciert werden kann."
    Und so geschah mit dem Brandt-Report, was Kritiker prophezeit hatten: Die einen, vor allem die mediale Öffentlichkeit, lobte ihn in den Himmel; die anderen, die Entscheider in Politik und Wirtschaft, äußerten Wohlwollen – und ignorierten ihn einfach. Die Verfechter der Nationalinteressen a la Reagan und Thatcher hatten gesiegt. Was sich heute übrigens in konkreten Zahlen widerspiegelt: Statt der geforderten Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent werden durchschnittlich nur etwa 0,3 Prozent gezahlt, und die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen verdoppelte sich auf fast 1,5 Mrd. Hat also die Nord-Süd-Kommission versagt? Nein, hat sie nicht! Michael Hofmann, ein ehemaliger Mitarbeiter Willy Brandts, stellt dazu fest:

    Eine unmittelbare politische Umsetzung der Vorschläge internationaler Kommissionen ist kaum zu erwarten, da sich die Regierenden nicht vorschreiben lassen wollen, was sie zu tun haben. Mittel- und längerfristig können vernünftige Empfehlungen gleichwohl Früchte tragen, weil durch den Problemdruck Bedenkenträger reifen und beweglich werden.

    Mirko Smiljanic über den von Willy Brandt herausgegebenen Band "Das Überleben sichern." Bericht der Nord-Süd-Kommission. 1982 bei Kiepenheuer und Witsch erstmals publiziert, ist das 379 Seiten starke Taschenbuch heute nur noch antiquarisch erhältlich.