Dienstag, 19. März 2024

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Autobiografie Karl Ove Knausgård
"Kunst macht dasselbe wie Religion"

"Kämpfen" heißt das neue Buch des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård. Auf den 1.300 Seiten kommt rund 400 Mal das Wort Gott vor. Es reizt ihn, sich mit Religion auseinanderzusetzen. Barmherzigkeit findet er besonders verlockend - und problematisch, weil sie Unterschiede verwischt.

Von Brigitte Neumann | 06.07.2017
    Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård sitzt am 02.10.2015 vor einem Hotel in Berlin.
    Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Karl Ove Knausgård, vierfacher Vater, in zweiter Ehe mit einer norwegischen Schriftstellerin verheiratet, ist frisch geschieden. Wir sprechen über Rituale. Ihm fällt die Beerdigung seines Vaters ein:
    "Ich muss sagen, dass ich nie etwas mit der Kirche zu tun hatte. Aber in dem Moment brauchte ich einen Priester. Nur für die Formalitäten der Beerdigung. Aber am Ende war es wie eine Beichte. Ich weinte und weinte. Und der Priester saß nur da und hörte zu. Dann stellte er ein paar Fragen zu meinem Vater. Es kam der Tag der Beerdigung. Mein Vater war Teil davon als Mensch unter Menschen. Der Priester sagte: 'Er hatte sein Leben und es war ein schweres Leben. Und nun ist er tot. Wir verabschieden uns von ihm.' Und da begriff ich: Das muss Barmherzigkeit sein. Alles, was er getan hatte, war damit komplett getilgt. Darum ging es nicht mehr. Einer von uns ist tot. Wir verabschieden ihn. Da habe ich das erste Mal in meinem Leben verstanden, was ein Ritual ist. Und was Barmherzigkeit ist. Und warum es Religionen gibt."
    "Ich weiß nicht, wie es ist, in der Gegenwart Gottes zu leben"
    Und obwohl er in diesem Gespräch immer wieder versichert, nichts mit Religion zu tun zu haben, traf er nach der Beerdigung seines Vaters eine spontane Entscheidung:
    "Danach habe ich alle meine Kinder taufen lassen. Deshalb. Ich wollte, dass sie symbolisch zu einem Teil, nicht der Gesellschaft, sondern der Menschheit werden."
    Der 49-jährige Norweger, der zurzeit in Schweden lebt, hatte als Berater zwei Jahre lang an der neuen Bibelübersetzung ins Norwegische mitgearbeitet. Im letzten Band seiner international erfolgreichen sechsbändigen Autobiographie - der Titel ist "Kämpfen" - setzt er sich ausführlich mit dem Thema Religion auseinander. Etwa 400 Mal erscheinen die Begriffe Gott oder göttlich auf den 1300 Seiten des Buches.
    "Ich weiß nicht, wie es ist, in der Gegenwart Gottes zu leben. Ich habe ein solches Leben nie gehabt. Aber ich weiß, dass meine Großeltern so gelebt haben, und dass es immer noch irgendwie Bestandteil unserer Kultur ist. Aber wenn ich religiöse Ekstatiker lese, wie sie über die Gegenwart Gottes schreiben, dann merke ich: Zu diesem Teil des Lebens ist mir der Zugang versperrt. Mein Ersatz dafür ist Lesen und Schreiben. Kunst insgesamt. Kunst macht dasselbe wie Religion. Sie intensiviert die Bedeutung und sie definiert mich auf gewisse Weise."
    "Wir sind nicht alles"
    Religion gehört zum Bereich der Transzendenz, Kunst berührt ihn zumindest. Beide übersteigen auf je ihre Weise die menschliche Erfahrungswelt.
    "Wenn man Gott als jemanden begreift, der außerhalb der Menschheit steht, dann ist dies auch gleichzeitig ein Ort, von dem aus wir uns selbst sehen können. Für mich hat Kunst immer die Fähigkeit, aus der Gesellschaft heraus zu gehen, über das hinaus, was zwischen uns ist. Daran ist nichts Übersinnliches. Es hat damit zu tun, dass es außerhalb von uns noch etwas gibt. Dass wir nicht alles sind."
    Weil "Kämpfen" im norwegischen Original schon vor sechs Jahren erschienen ist und weil er sich nicht genau erinnerte, was da alles zum Thema Religion drinsteht, war Karl Ove Knausgård fleißig.
    "Das erste Mal, dass ich ein Buch von mir wieder gelesen habe, und nur, um mich auf dieses Gespräch vorzubereiten."
    Auf der Suche nach Differenz und Abstand
    Als eine der eindrücklichsten Stellen ist ihm eine Anekdote von Jean Genet in Erinnerung. Genet trifft in einem Zugabteil auf einen stinkenden, spuckenden, hässlichen und unfreundlichen Mann.
    "Genet ist angewidert von diesem Mann, von dessen ganzer Existenz. Er schaut ihm in die Augen und realisiert, dass er, Jean Genet, ein Mensch ist wie dieser. Wir sind alle gleich. Ich kann es jetzt nicht so gut erklären, aber es war wie ein Schock für mich, dies zu lesen. Ein Schock, vergleichbar mit dem, den einige Lehrsätze von Jesus bei mir auslösten. Was damit zu tun hat, dass wir zwar sagen, alle Menschen auf der Welt seien gleich. Aber wir können es gar nicht empfinden. Und vielleicht auch gar nicht verstehen. Aber wenn man es einmal verstanden hat, dann sind die Konsequenzen im wirklichen Leben enorm."
    Was soviel heißt wie: Karl Ove Knausgård weiß nun, dass er die Meinung, alle Menschen seien gleich, nicht teilt. Es gab Hitler, es gab seine Opfer – sie sind nicht gleich. Es gibt den Schriftsteller Knausgård und es gab dessen Vater, ein schwerer Alkoholiker, der seinem Sohn das Gefühl gab, ein Nichts zu sein. Sie sind nicht gleich. In der Differenz liegt die Identität begründet: Ich bin anders als du. Dies ist eines der wichtigsten Themen, die Knausgård in seinem essayistischen Memoir diskutiert. Und es hat weitreichende, auch politische, Implikationen.
    "Alle Religionen enthalten ein utopisches Moment, ein idealistisches Element. Und darüber reden wir, wenn es heißt: Schlägt dich einer auf die eine Wange, halte auch die andere hin. Immer wenn es um Vergebung, Gnade und Barmherzigkeit geht, dann wird es schwierig. Denn das soziale Leben ist auf Unterschieden aufgebaut. Aber dieses Konzept von Gnade und Barmherzigkeit nimmt alle Unterschiede weg. Und Genet mit seiner Einsicht ‚Ich bin wie er‘ nimmt auch alle Unterschiede weg. Das ist sehr radikal. Allerdings: Der Ort, an dem es keine Unterschiede gibt, ist kein Platz, an dem man leben könnte."
    Statement gegen Globalisierung
    Wo alle gleich sein sollen, herrscht Unterordnung. Denn aus der Masse der Gleichen darf niemand aufragen. So gesehen ist der Ort der Freiheit am genau anderen Ende des Spektrums. Aber es gibt ja noch unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit, die Sehnsucht, Einer unter Gleichen zu sein. Da aber bei den beiden christlichen Kirchen ein Selbstauflösungsprozess zu beobachten ist, und zwar nicht nur, weil auch sie versuchen ihre Unterschiede auszulöschen, fällt die Religion als Instanz der Zugehörigkeit aus. Was bleibt? Die Bastion "Heimat"? Knausgård schaut sich um und sieht auch da: Auflösung. Etwa wenn in Schweden die Bezeichnung "hen" eingeführt wird, als unisex-Wort für Mann und Frau. Wenn es an der Schule seiner Kinder als rassistisch gilt, die Nationalhymne zu singen und er zitiert die Klage einer Lehrerin, dass im Unterricht nicht mehr von Gott und Jesus die Rede sein dürfe. Es könnte ja einige zugewanderte Schüler verletzen.
    "Das zerstört die Unterschiede zwischen den Kulturen. So wie es auch der Kommerz tut. Er macht alles gleich. Dies ist ein Statement gegen Globalisierung im Buch."
    Karl Ove Knausgård: "Kämpfen" - Aus dem Norwegischen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg
    Luchterhand, München 2017. 1280 Seiten, 29,00 Euro.