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Autochthone Literatur in Quebec
Schreiben als Existenzbeweis

Man verbannte sie in Reservate, raubte ihnen Selbstbestimmungsrechte und ihr Land. Auch heute noch leben die Ureinwohner Kanadas in prekären Verhältnissen. Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse gilt den autochthonen Völkern ein besonderes Augenmerk, insbesondere der Literatur der Innu.

Von Cornelius Wüllenkemper | 20.03.2020
Quebec - Skyline der Innenstadt am Wasser
Vom Reservat zum Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2020 (picture alliance / dpa / Heeb Christian)
"Wenn man seine Sprache spricht, das Innu-aimun, dann geht es um die eigene Identität und Kultur. Und um die eigenen Träume."
Josephine Bacon ist die Grande Dame der autochthonen Literatur Quebecs. Die preisgekrönte Dichterin und Erzählerin war eine der ersten, die in der Sprache der Innu vom Schicksal ihres Volkes erzählte. Das Innu-aimun ist ein Teil des autochthonen Kulturerbes, für dessen Erhalt sich Bacon als Autorin und Aktivistin einsetzt. In ihrem Stamm-Café in Montreal erzählt die rüstige alte Dame, wie sie im Alter von fünf Jahren als eines von 80.000 autochthonen Kindern von ihren Eltern getrennt und zur Zwangsassimilation in eines der staatlichen Internate verbracht wurde. Die Erfahrung der Entfremdung und die aktive Unterdrückung der autochthonen Kulturen sind Ursprung der bis heute virulenten prekären Lebensbedingungen vieler Ureinwohner.
"Bis heute stecken die jungen Leute in einem Dilemma zwischen der Identität ihrer Eltern- und Großeltern und dem modernen Leben in der Stadt. Auch in den Reservaten fühlen sie sich nicht wirklich zuhause. Ich selbst habe 14 Jahre lang im Pensionat gelebt. Das kulturelle Erbe meiner Vorfahren musste ich mir selbst erarbeiten. Meine Eltern haben ja noch als Nomaden gelebt, und ich wurde ebenfalls als Nomadin geboren."
Verloren zwischen Reservat und Großstadt
Bis heute kehrt Josephine Bacon regelmäßig in ihre Stammes-Heimat 1.500 Kilometer nördlich von Montreal zurück, auch um die Autochthonen-Sprache an die junge Generation zu vermittelt und damit die Verbindung zu den kulturellen Wurzeln ihrer Vorfahren zu stärken. In ihrer jüngsten Kurzgeschichte "Nashtash geht in die Stadt" erzählt Bacon vom Schicksal einer jungen Innu-Frau. Nashtash verlässt ihr Reservat, wo das Leben von Perspektivlosigkeit, von Alkohol und Armut geprägt ist, und versucht sich in der modernen Großstadt. In einer Gruppe von Herumtreibern verdient die junge Innu zunächst ihr Geld, indem sie an Ampelkreuzungen Autoscheiben putzt, und schließlich verdingt sich Nashtash als Tänzerin in einem Nachtclub. Das Schicksal von Josephine Bacons Protagonistin spiegelt die Lebensrealität vieler Innu.
Literatur gegen die historische Diskriminierung
Josephine Bacons Geschichte von Nastash ist eine von zahlreichen Erzählungen, die sich gegenwärtig mit der Lage der autochthonen Bewohner Quebecs auseinandersetzen. Sie handeln von den sozialen Verheerungen in den Reservaten, von den Identitätskonflikten der Innu zwischen ihrem kulturellen Erbe als Nomadenvolk und dem modernen Großstadtleben. Zugleich formulieren sie den wachsenden Widerstand gegen eine historisch geprägte Diskriminierung. Buchhändler und Literaturwissenschaftler berichten, dass das Interesse an den Geschichten der Autochthonen seit einigen Jahren rasant wächst. Mittlerweile ist die Literatur der Quebecer Ureinwohner fester Bestandteil des schulischen und akademischen Literaturkanons in Kanada. Kürzlich fand im Wendake-Reservat in Quebec-Stadt bereits die achte Ausgabe einer spezialisierten Buchmesse für autochthone Literatur statt.
"Die Literatur ist eines der wenigen Ausdrucksmittel, die uns noch bleibt. So sind wir öffentlich sichtbar, wir existieren. Ich denke, wir Autochthonen müssen sichtbar bleiben, und ich trage auf meine Weise dazu bei."
Meint der Journalist und Autor Michel Jean, der sich selbst zu den assimilierten Innu zählt, aber dennoch seine Wurzeln nicht vergessen will. Bereits 2013 veröffentlichte Jean den ersten Roman über die Zwangspensionate für die kulturelle Assimilierung autochthoner Kinder, die erst 1996 abgeschafft wurden und auch danach ein Tabu blieben.
"Meine Verlegerin fragte mich damals, ob das wohl eine gute Idee sei. Das war ja noch bevor die Wahrheitskommission 2016 die Untersuchung des Unrechts gegen die Autochthonen aufnahm. Die Zeit war noch nicht reif für das Thema. Die Zeiten haben sich seitdem rasant geändert. Aber wie weit das gehen wird, ist nicht sicher. Wenn es etwa um Verhandlungen über die Jagdgenehmigungen in den Regionen im Norden geht, scheint plötzlich wieder der alte Rassismus auf. Sobald es um konkrete Rechte der Autochthonen geht, meint man, die Zeit sei stehengeblieben. Zumindest freue ich mich darüber, dass die Literatur bereits eine Öffnung des Bewusstseins bewirkt hat. Das ist die Magie der Literatur."
Literatur öffnet das Bewusstsein
Unlängst hat Michel Jean den viel beachteten Erzählband "Amun", "Versammlung", herausgegeben, der im Herbst 2020 auch auf Deutsch vorliegen wird. Die Aktivistin und Autorin Melissa Mollen Dupuis erzählt darin vom "Memekueshu", einer Fantasie-Figur der autochthonen Spiritualität.
"Ich erzähle von uns Autochthonen, von unseren Geistern und Fantasiefiguren. Diese Märchenfiguren sind bisher noch nicht von der großen Literatur geadelt worden, aber sie sind Teil unserer Geschichte. Wir müssen sie aufschreiben, bevor sie verschwinden. Ich bin eine autochthone Frau des 21. Jahrhunderts, und die Legenden meiner Vorfahren sind noch immer Teil meines Bewusstseins."
Neben Melissa Mollen Dupuis ist im Sammelband "Amun" auch die bekannteste der jungen autochthonen Autorinnen vertreten, Naomi Fontaine. Ihr Debütroman über ihre Kindheit im Reservat machte sie mit 23 Jahren zum Shooting Star der Quebecer Literaturszene. Nach einigen Jahren in der Stadt kehrte Fontaine schließlich als Lehrerin zurück in ihr Reservat Uashat, tausend Kilometer nördlich von Montreal, dort wo der Sankt Lorenz-Strom in den Atlantik mündet. Über ihre Arbeit mit den Jugendlichen im Reservat schrieb sie ihren zweiten, auch auf Deutsch erscheinenden Roman "Manikanetish".
"Ich wünsche mir, dass auch die Innu meine Bücher lesen und dabei merken, dass wir anders sind als die Weißen, und das ist auch gut so. Wir müssen nicht sein wie sie, wir haben eine andere Geschichte und eine andere Kultur. Wir sehen die Welt anders, wir gehen anders mit der Zeit um. Innu haben es nicht eilig, wir sehen das Leben auch nicht als Abfolge von Aufgaben und Pflichten. Für uns verläuft das Leben nicht in Bahnen, sondern in Kreisen. Das möchte ich in meinen Büchern zeigen, den anderen Innu aber auch mir selbst! Ich bin keine weiße Quebecerin, und das ist auch gut so."
Das trügerische geschriebene Wort
Sowie Josephine Bacons Gedichte erscheinen auch die Romane von Naomi Fontaine beim Pionier und geheimen Chefkoordinator der autochthonen Literatur in Quebec, Rodney Saint-Eloi. 2003 gründete der gebürtige Haitianer seinen Kleinverlag "Mémoire d’encrier", der zunächst auf die Literatur der zahlreichen Exil-Haitianer spezialisiert war. Inzwischen hat Saint-Eloi seinen Fokus auf andere Opfergruppen der Kolonisierung geweitet. Die gegenwärtige Präsenz der Innu-Literatur auf dem Buchmarkt sieht der eigenwillige Verleger wohlwollend und kritisch zugleich.
"Ich weiß nicht, ob es ein echtes Interesse am Schicksal der Innu gibt. Ich weiß, dass es eine Schuld gibt und eine Geschichte, die nie erzählt wurde. Reservate waren Orte der absoluten Rechtlosigkeit. Menschen, die man in Reservate steckt, haben nicht das Recht, ihre Geschichte zu erzählen, denn das würde ja beweisen, dass sie Teil der Menschheit sind. Bis in die sechziger Jahre war für die Ureinwohner Kanadas die Einwanderungsbehörde zuständig! Man hat diese Menschen als "Wilde" bezeichnet."
Vor wenigen Wochen hat Rodney Saint-Eloi das lange vergriffene Grundlagenwerk der autochthonen Literatur neu ediert. 1976 veröffentlichte die Aktivistin An Antane Kapesh das erste gedruckte Buch einer Ureinwohnerin, ihre bittere Anklage "Ich bin eine verdammte Wilde". Das Vorwort zur Neuauflage dieser postkolonialen Streitschrift hat Naomi Fontaine geschrieben. Dass sich seit einigen Jahren immer mehr autochthone Autoren zu Wort melden, hat auch eine historische Dimension: das geschriebene Wort galt vielen Innu bisher als trügerisch, denn der historische Landraub durch die Kolonisatoren basierte auf irreführenden schriftlichen Verträgen. Dieser historische Kontext verleiht der Literatur der Innu eine zusätzliche kulturgeschichtliche Bedeutung.
Josephine Bacon: "Bâtons à message: Tshissinuatshitakana"
Mémoire d'encrier, Montreal 2013. 132 Seiten.
Josephine Bacon: "Uiesh - Quelque part"
Mémoire d'encrier, Montreal 2018. 126 Seiten.
Michel Jean (Hrsg.) "Amun. Nouvelles"
Stanké, Montreal 2016. 168 Seiten.
Deutsche Übersetzung: "Amun"
Aus dem kanadischen Französisch von Michel von Killisch-Horn,
Wieser Verlag, Klagenfurt. März 2020.
Jean Michel: "Le Vent en Parle Encore"
Libre Expression, Montreal 2013. 238 Seiten.
Naomi Fontaine: "Kuessipan. A toi"
Mémoire d'encrier, Montreal 2011. 113 Seiten.
Naomi Fontaine: "Manikanetish"
Mémoire d'encrier, Montreal 2017. 137 Seiten.
Deutsch: "Manikanetish"
Aus dem kanadischen Französisch von Sonja Finck
C. Bertelsmann, Gütersloh. Herbst 2020.
An Antane Kapesh: "Je suis une maudite sauvagesse"
Mémoire d'encrier 2019. 216 Seiten.