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Autodafé. Erinnerungen

Budapest, 24. Mai 1914: Elsa Tabori hat das Warten auf ihren zweiten Sohn satt. Er will und will nicht in die "kalte Welt" hinaus; da kommt der Ratschlag eines gewissen Dr. Wehmut gerade recht: Lachen soll sie, "nicht fröhlich, als hätte sie etwas Komisches gehört", sondern um die Spannung im Bauch zu lösen. Ja, George Tabori weiß, wie Autobiographien zu beginnen haben: wenn nicht mit einem "Glockenschlag", wie bei Goethe, so doch mit einem Geburtsmythos, in dem bereits das Credo eines ganzen Lebens aufleuchtet. Humor also, je schwärzer desto besser, stellt für den Romancier, Dramatiker und Regisseur Tabori von jeher die beste, oft sogar einzige Strategie dar, der irrwitzigen Welt zu begegnen. Über die dunklen Seiten dieses Sonntagskinds sollte man sich dabei keine Illusionen machen: "Verborgen hinter blauäugiger Nettigkeit", warnt Tabori, "trinke ich, in der Hitze der Nacht, Blut."

Natascha Freundel | 23.10.2002
    Groß ist der Auftritt des Theatermanns Tabori auf den ersten Seiten von "Autodafé" und klein ist sein Interesse daran, die Regeln einer klassischen Autobiographie weiter zu verfolgen:

    Um es naiv zu formulieren, es ist eine Geschichte über meine Familie. Ich habe über sie geschrieben, die meisten Sachen sind wie es war, wie ich mich erinnere, andere Sachen vielleicht habe ich erfunden. Weil eine Autobiographie heißt nicht, dass man Wort zu Wort so beschreibt, wie es war. Was heißt das wie es war? Was ist eine Lüge? Es geht um die drei wichtigsten Leute, mein Bruder, meine Mutter, mein Vater, die sind alle gestorben - und das ist das Entscheidende in dem Buch, dass sie alle tot sind.

    Als eine späte Umarmung seiner engsten Familienmitglieder will Tabori das lang erwartete Erinnerungsbuch verstanden wissen; als eine Geste, die sie für den Augenblick je eines kurzen Kapitels wieder zum Leben erweckt.

    Das Motto des Bruders Paul: "Sag die Wahrheit, nicht nur das, was real ist", kann dabei als federführend gelten. Im Portrait des Bruders werden Dichtung und Wahrheit so kunstvoll wie leichtfüßig vermischt: Tabori zeigt ihn als "Genie" der Verstellung, das bereits mit zwölf Jahren in einer "führenden Tageszeitung" Gedichte veröffentlichte, die er sich freilich "von einem gewissen John Donne ausgeborgt hatte"; schließlich wird Paul Tabori sogar bei seinem Begräbnis beinah mit einem anderen verwechselt: Eine tragikomische Irrfahrt führt die Trauergemeinde von Friedhof zu Friedhof - sie erzählt auch von den Umwegen der Beziehung zwischen den beiden Brüdern.

    Knapp und detailsicher, anekdotisch und assoziativ ist auch die Schilderung der Mutter. Von der Behauptung, sie sei eben ganz einfach eine Mutter gewesen, und damit "basta!", ist es nur ein kleiner Schritt zu jener Szene, in der sie sich am letzten ungarischen Kriegstag in den Keller eines, wie es heißt, "einigermaßen ungefährdeten Ariers" flüchtet. Liebevoll erinnert sich Tabori an die Mutter als unermüdliche Reisebegleiterin, ohne sie je zu verklären:

    Ich habe meine Eltern sehr unterschiedlich erlebt und so kritisch gesehen, wie man es nicht gewöhnt ist als Kind. Mein Vater zum Beispiel, der ein strenger Mann war, ein Journalist, ein Historiker, ein Schriftsteller, der meinen Bruder oft verprügelt hat, mich hat er einmal geschlagen und dann sich entschuldigt. Er hat bis zum Ende heroisch gelebt.

    Bis zum Ende, das heißt, bis zu seinem Tod in Auschwitz. Einige der stärksten Prosatexte und Theaterstücke Taboris sind aus der Beschäftigung mit diesem Tod hervorgegangen: Stücke voll greller, brutaler Komik, voll beckett'schem Surrealismus. In "Autodafé" kommt Tabori als Tourist, als einsamer Besucher nach Auschwitz: inmitten von stummen Mauern und Wegen auf der Suche nach "einem Vater im Wind". Die Hilflosigkeit des Holocaust-Überlebenden Tabori war vielleicht nie so deutlich wie in diesen Zeilen.

    Das Leben ist schlimm, es passieren schlimme Sachen. Ich habe sehr wenig Leute gekannt, die sagen könnten, mein Leben war immer glücklich. Also ich hatte zum Beispiel eine sehr glückliche Zeit während des Krieges, wo furchtbare Sachen passierten, wo Millionen von Menschen, auch meine Familie, 80 Prozent der Familie sind umgekommen, auch mein Vater - aber ich persönlich, in Sofia und in Istanbul besonders hab ich eine sehr schöne Zeit gehabt. Das habe ich mir nie ganz verziehen.

    Ein Familienmitglied nach dem Anderen lässt Tabori in "Autodafé" auftreten - hinter ihrem Rücken sehen wir ihn manchmal sanft lächeln, manchmal grinsen; doch meist versteckt er sich. Über den Weltbürger und gefeierten Theatermann George Tabori erfährt man in diesem Buch kaum etwas. Vielleicht, weil er anderswo schon einiges geschrieben hat über seine Zeit als Radio- und Zeitungskorrespondent in Sofia, Istanbul, Jerusalem, Kairo und London. Über die Jahre in Hollywood als Drehbuchautor, die Begegnung mit Bertold Brecht Ende der 40er und die schwierige Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock. Der Zufall, der ihn durchs Leben und 1971 an das deutsche Theater führte, hat bereits viele große und kleine Erzählungen hervorgebracht. Für den 88-Jährigen, der gerade am Berliner Ensemble sein neues Stück über Terrorismus inszeniert, ist dabei vor allem eines wichtig:

    Was ich immer erzählen muss, immer sagen muss: dass ich keine Heimat habe, dass ich ein Fremder bin, und das meine ich nicht pathetisch sondern als gute Sache. Weil ein Schriftsteller, nach meinem Geschmack, muss ein Fremder sein.

    Das letzte Kapitel zeigt, wo dieses Fremdsein gereift ist: nämlich in Berlin, wo Tabori seit Oktober 1932 erst im "Adlon", dann im Hotel "Hessler" ein halbes Jahr lang zum Hotellier ausgebildet wurde. Teller klappernd und Säfte verschüttend erweist sich er sich hier als schlechter Diener der neuen Herren; aber auch als romantischer, weltfremder Grünschnabel. Zwischen Kasse und Küche ist ihm das Lächeln des Hotelmädchens Anna wichtiger als der Aufmarsch der Nazis vor den Türen. Das immer leerer werdende Restaurant des Hauses - die perfekte Kulisse einer saftigen Romanze. "Wonne eines Dummkopfs", so Taboris altväterliches Bekenntnis.

    Autodafé ist eine Sammlung von Miniaturen, die je für sich gut in einer Literaturzeitschrift Platz gefunden hätten. Tabori hat es, wie jedes seiner Bücher, auf Amerikanisch geschrieben und wie gewohnt von Ursula Grützmacher übersetzen lassen. Nicht an jeder Stelle hält der Text einem Vergleich mit seiner früheren Prosa stand: man spürt, dass Tabori auch in der Sprache ein Fremder wird, die einst seine Wahlheimat war.

    Jetzt muss ich zugeben, dass Ungarisch kann ich nur stammeln. Englisch spreche ich nur wenn meine Tochter kommt, mich zu besuchen, einmal im Jahr für zwei Tage. Also natürlich, die Sprache allmählich verlässt mich. Ich habe bis vor zwei Jahren nur Englisch geschrieben. Und eine Übersetzung ist eine merkwürdige Sache. Ich glaube, keine Übersetzung ist wie das Original.