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Autor Johannes Bobrowski
Der Sprachmagier

Vor 50 Jahren starb in Berlin-Friedrichshagen der Dichter Johannes Bobrowski, gerade einmal 48 Jahre alt. Der in Tilsit geborene Autor wuchs zwischen Weichsel und Memel auf, einer Landschaft nördlich des Schwarzen Meeres, der sich Bobrowski nach dem Zweiten Weltkrieg literarisch zuwandte.

Von Michael Opitz | 02.09.2015
    Berlin / Köpenick, 18.04.1998: Ortsteil Friedrichshagen: Dichters Ort: Johannes Bobrowskis Wohnhaus, Arbeitszimmer.
    Berlin / Köpenick, 18.04.1998: Ortsteil Friedrichshagen: Dichters Ort: Johannes Bobrowskis Wohnhaus, Arbeitszimmer. (picture-alliance / dpa / Berliner_Kurier / Sabeth Stickforth)
    Als Lyriker war er ein Solitär - seine Dichtung wird heute in einem Atemzug mit der von Nelly Sachs und Paul Celan genannt. Einem breiteren Publikum wurde er durch seinen Roman "Levins Mühle" bekannt. Der Roman erscheint jetzt aus Anlass seines Todestages in einer Neuausgabe im Verlag Klaus Wagenbach.

    "Es ist vielleicht falsch, wenn ich jetzt erzähle, wie mein Großvater die Mühle weggeschwemmt hat, aber vielleicht ist es auch nicht falsch." Mit diesem Satz beginnt Johannes Bobrowskis 1964 erschienener Roman "Levins Mühle". Der Erzähler zögert zunächst, ob es richtig ist, die Geschichte seines Großvaters zu erzählen. Was aber kann daran falsch sein, wenn der Enkel erzählen will, was sich Ende des 19. Jahrhunderts zugetragen hat? Bobrowski verstand es, die Geschichte vom Großvater eindringlich zu lesen.
    "Nun also kurz und rund die Geschichte mit dem Levin. In zehn Sätzen, wie sich mein Großvater die ganze Angelegenheit zurechtgedreht hat. Ich verstehe, sagt Glinski, und nimmt eine neue Zigarre. In unserem Abwehrkampf gegen die polnische Überfremdung, in unserer Position als Eckpfeiler unseres stolzen Reiches, ich will mal sagen: die Gesetze reichen nicht aus. Jawohl sagte mein Großvater. Und da dachte ich - Und da haben Sie recht gedacht, sagt Glinski, und gleich morgen schreibe ich." (Levins Mühle, 52)
    Bobrowskis erzählwilliger Enkel steht vor einer komplizierten Aufgabe. Entweder er hält sich an die Wahrheit, dann muss er vom Verbrechen seines Großvaters erzählen. Oder er ergreift Partei für seinen Großvater, dann muss er das Unrecht verschweigen, von dem alle wissen. Der 1917 geborene Autor führt einen verunsicherten Erzähler ein, der nach Orientierung sucht und dem das Erzählen nicht leicht fällt. Denn erzählt er diese alte, Jahre zurückliegende Geschichte, dann werden die Deutschen dabei nicht gut wegkommen. Wer von den Sünden der Großväter erzählen will, der muss auch die Sünden der Großväter der Großväter mitbedenken. "Da gibt es kein Ende, wenn wir erst anfangen herumzusuchen", heißt es in Bobrowskis Roman:
    "Mein Großvater ist nicht nach Briesen gefahren. Er hat also einen Bescheid gehabt. Da hat es also geklappt: Des Herrn Pastors Briefchen, des Herrn Landrats Hinweis, des Herrn Kreisrichters Dreh mit dem Termin, so ist das gegangen, einfach, klar, als hätte der bekannte Geist von Potsdam persönlich darüber gewacht." (Levins Mühle, 107)
    In einer Szene der Oper "Levins Mühle" klagt Leo Levin (Tom Erik Lie, 3.v.r.) den deutschen Mühlenbesitzer Johann (Florian Cerny, sitzend Mitte l.) vor dem Richter (Andreas David, M.) an, seine Mühle zerstört zu haben.
    Szene aus der Oper "Levins Mühle" von Udo Zimmermann nach dem Roman von Johannes Bobrowski (picture alliance / dpa / Wolfgang Kluge)
    Die Schuld der Deutschen und das Leid der Juden
    Als "Levins Mühle" erschien, hatte sich Bobrowski bereits einen Namen als Lyriker gemacht. 1961 war sein erster Gedichtband "Sarmatische Zeit" veröffentlicht worden, ein Jahr später - in diesem Jahr erhielt er den Preis der Gruppe 47 - folgte mit "Schattenland Ströme" sein zweiter Gedichtband. Bobrowskis Thema war die Schuld der Deutschen, begangen an den Völkern des Ostens und besonders beschäftigte ihn das Leid, das die Deutschen den Juden zugefügt hatten:
    "Ich kann nun diese Schuld natürlich nicht abtragen, aber ich kann vielleicht versuchen, sie sichtbar zu machen, an sehr handgreiflichen und sehr einfachen Dingen."
    Als Wehrmachtssoldat fand Bobrowski 1941 an dem in Russland gelegenen Ilmsee sein "Sarmatisches Thema". Die Landschaft und die Menschen erinnerten ihn an seine Heimat, doch vor dem Fremden, der in der Uniform des Feindes gekommen war, verschlossen sie sich.
    "Ich will [...] in einem großangelegten (wenigstens vom Umfang nach) Gedichtbuch gegenüberstellen: Russen, Polen, Aisten samt Pruzzen, Kuren Litauer, Juden - meinen Deutschen. Dazu muß alles herhalten: Landschaft, Lebensart, Vorstellungsweise, Lieder, Märchen, Sagen, Mythologisches, Geschichte, die großen Repräsentanten in Kunst und Dichtung und Historie. Es muß aber sichtbar werden am meisten: die Rolle, die mein Volk dort bei den Völkern gespielt hat. Und so wird die Auseinandersetzung mit der jüngsten Zeit, für mich: der Krieg der Nazis, einen wesentlichen und sicher den gewichtigsten Teil ausmachen. So werde ich in den Gedichten stehen, uniformiert und durchaus kenntlich. Das will ich: eine große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schultern nehmen, bescheiden und für mich, und das daran gestalten, was ich schaffe. Und das soll ein Beitrag sein zur Tilgung einer unübersehbaren Schuld meines Volkes, begangen eben an den Völkern des Ostens."
    Handgreifliche Geschichten
    Die Erzählung "Mäusefest ist eine dieser "einfachen" und - wie Bobrowski es sagte - sehr "handgreiflichen" Geschichten. In der Stube von Moise Trumpeter sind jeden Abend der Mond und eine Schar Mäuse zu Gast. Es ist eine vertraute Atmosphäre. Der Mond schaut gern vorbei und auch die Mäuse kommen gern, weil Moise stets ein Stück Brot für sie hat. Jeden Abend ereignet sich das gleiche kleine Schauspiel in der immer gleichen Besetzung. Im Mondlicht tanzen die Mäuse, keiner stört. So könnte es weitergehen, das Leben von Moise Trumpeter. Doch eines Tages taucht im Laden des Juden ein deutscher Soldat auf. Bobrowski erzählt eine Geschichte, die vom Verschwinden handelt.
    "Weißt du, sagt der Mond zu Moise, ich muß noch ein bißchen weiter. Und Moise weiß schon, daß es dem Mond unbehaglich ist, weil dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn bloß? Also sagt Moise nur: Bleib du noch ein Weilchen. Aber dafür erhebt sich der Soldat jetzt. Die Mäuse laufen davon, man weiß gar nicht, wohin sie alle so schnell verschwinden können. Er überlegt, ob er Aufwiedersehen sagen soll, bleibt also einen Augenblick noch im Laden stehen und geht dann einfach hinaus. Moise sagt nichts, er wartet, daß der Mond zu sprechen anfängt. Die Mäuse sind fort, verschwunden. Mäuse können das." (Bobrowski, Werke IV, 49)
    Die Mäuse verschwinden und der Leser weiß, dass es bei deren Verschwinden nicht blieb. Bobrowski schreibt dieser melancholischen Erzählung trotz der Trauer, mit der sie unterlegt ist, ein winziges Hoffnungsmoment ein. Als die Erzählung 1962 entstand, waren solche Töne in der deutschen Literatur ungewöhnlich. Aber eben deshalb standen Bobrowskis Bücher auch in der Bibliothek Paul Celans. Bobrowski hatte für die Verbrechen der jüngsten Vergangenheit seine Sprache gefunden. In der Sprache der Täter sprach er von der Schuld der Deutschen und zugleich streckte er - über alles Nationale hinaus - den Völkern im Osten die Hand zur Versöhnung entgegen.
    Sprache
    Der Baum
    größer als die Nacht
    mit dem Atem der Talseen
    mit dem Geflüster über
    der Stille
    Die Steine
    unter dem Fuß
    die leuchtenden Adern
    lange im Staub
    für ewig
    Sprache
    abgehetzt
    mit dem müden Mund
    auf dem endlosen Weg
    zum Hause des Nachbarn
    Nach vier Jahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft kehrte Bobrowski 1949 nach Berlin-Friedrichshagen zurück; 1953 zog er zusammen mit seiner Frau und seinen Eltern in die Ahornallee 26. Er wurde heimisch in dieser im Südosten Berlins gelegenen Gegend. Doch Berlin war weit entfernt von der Landschaft, der seine Liebe gehörte. In der Erzählung "Das Käuzchen" beschreibt er den Alltag seines Friedrichshagener Lebensortes. Indem er aber in dieser Erzählung von seinem Hiersein spricht, erinnert ihn der Ruf des Käuzchens an sein Fernsein.
    "Wir leben hier jeden Tag, wir haben unsere Kinder, und unsere Arbeiten, jeden Tag, und das ist alles ernst, wir müssen uns ausruhen, weil wir ermüdet sind, aber wie sind wir denn hier - ein Vogel ruft, und wir meinen aufzuwachen. Du hast die litauischen Lieder vor, plötzlich, mitten am Tag, das Essen ist auf dem Feuer, nachher kommen die Kinder aus der Schule, und ich hier schreib etwas auf, im Büro, um mit dir zu reden. Oder besinge noch immer dunkel, wie Graß sagt, das Flüßchen Szeszupe. Sag doch, wie leben wir hier? Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?" (Bobrowski, Werke IV, 77)
    Bobrowski, dieser Dichter mit Herz und Verstand, dessen Gedichte und Prosaarbeiten einzig dastehen in der deutschsprachigen Literatur, starb am 2. September 1965. Sein Roman "Levins Mühle", der jetzt in einer Neuausgabe im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist, lädt dazu ein, diesen Autor wieder zu lesen.
    Johannes Bobrowski: "Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater"
    Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2015. 228 Seiten.