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Autor zwischen den Kulturen

Mit Ernesto Sábato ist der letzte Schriftsteller jener "heroischen" Epoche der argentinischen Literatur gestorben. Schriftsteller wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares und natürlich Sábato selbst: Sie erneuerten die argentinische Literatur, schlossen sie an die Stilformen der klassischen Moderne an und erzeugten eine produktive Unruhe.

Von Kersten Knipp | 30.04.2011
    Ernesto Sábato
    Ernesto Sábato (dpa)
    Vielleicht macht es das Wesen des Menschen aus, dass er Schönheit braucht, ohne Erfahrungen ästhetischer Vollkommenheit nicht leben kann. Auch der junge Ernesto Sábato kam ohne Bilder des Schönen nicht aus. Und er fand sie – in der Mathematik. Sie war für ihn der Gegenentwurf zur schwierigen Wirklichkeit.

    "Sie war für mich mit unangenehmen, leidvollen, unvollkommenen Erfahrungen verknüpft. Als ich in der Schule, im Gymnasium zum ersten Mal die Demonstration eines Theorems hörte, war ich fasziniert. Es war die perfekte Ordnung, Klarheit, Reinheit, Perfektion – all das, was mir fehlte. Eine Faszination, die jahrelang angehalten hat."

    Die Liebe zur Mathematik wird ihn lange Zeit begleiten. Auch zur Physik, der Disziplin, in der er promoviert. Doch Schönheit ist nicht alles – den jungen Naturwissenschaftler treiben auch andere Fragen.

    "Die große argentinische Literatur neigt zur Metaphysik. Die wesentlichen menschlichen Fragen – der Tod, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Einsamkeit, die Fähigkeit zur Verständigung, Hoffnung – das sind Themen, die argentinische Schriftsteller beschäftigt haben."

    Onirische Welten, eine aus den Fugen geratende Wirklichkeit, zugleich die Unmöglichkeit, Grenzen hinter sich zu lassen, das sind die großen Themen Ernesto Sábatos, vor allem in seinem dritten Roman "Abaddon", ein Roman, der metaphysische Erfahrungen ebenso anspricht wie das Problem der uneingeschränkten Macht, unter der Argentinien in den 70er und 80er-Jahren litt. Literatur, meinte Sábato, ist mehr als bloß die Inszenierung einer Geschichte.

    "Vor allem im dritten Buch wollte ich meine Vorstellungen vom Roman über den Roman realisieren. Heute wie früher wird der Roman als Gattung in der Philosophie und in den Wissenschaften heftig diskutiert. Was ist eine Fiktion? Für wen schreibt man Fiktionen? Warum schreibt man Fiktionen? Immer wieder hat man die Zukunft des Romans in Frage gestellt."

    Warum man Fiktionen schreibt, darauf hat Sábato in seinen Romanen selbst die Antwort gegeben: Weil man ohne sie nicht leben kann. Man muss sich die Welt selbst deuten – jede Deutung hat aber auch etwas Fiktionales. In seinem ersten Roman "El túnel" wie auch in seinem zweiten, "Sobre héroes y tumbas" treten unglücklich Liebende auf, deren amouröses Scheitern sie zwingt, sich mit ihrem Unglück zurechtzukommen – Gewalt, Träumereien, Halluzinationen, das sind die Mittel, auf die seine Gestalten zurückgreifen. Zufall ist das nicht: Sábato lebte zeitweilig in Paris, wo er mit den großen Autoren der damaligen Zeit in Kontakt kam.

    "In Paris widmete ich mich tagsüber der Forschung im Institut Curie, und nachts traf ich mich mit den Surrealisten im Café Domio, das damals noch der Bohème angehört und nicht so bürgerlich war wie heute. Dort fand ich Freunde: Breton, Tristan Tsara, andere. Am Tag arbeitete ich im Institut Curie, nachts machte ich genau das Gegenteil."

    Ernesto Sábato, ein Autor zwischen den Kulturen – und damit womöglich ein typisch argentinischer Autor. Denn was ist Argentinien, wodurch definiert sich das Land?

    "Sich an Europa zu orientieren, auf Europa zu schauen, das ist eine bezeichnende argentinische Eigenart. Zumal sich Argentinien vom übrigen Lateinamerika unterscheidet. Wir leben hier auf der Bruchstelle zwischen dem eigentlichen Lateinamerika und Europa. Wir sind weder Europa noch Lateinamerika. Sie sehen es besonders deutlich in Buenos Aires. Und wenn Sie unsere Literatur lesen. Unser Blut ist europäisches Blut. Unsere Literatur ist aus Europa gekommen."

    Mit Ernesto Sábato ist der letzte Schriftsteller jener "heroischen" Epoche der argentinischen Literatur gestorben. Schriftsteller wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares und natürlich Sábato selbst: Sie erneuerten die argentinische Literatur, schlossen sie an die Stilformen der klassischen Moderne an, erzeugten jene produktive Unruhe, von der Sábato einmal sagte, sie allein bringe große Kunstwerke hervor.