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Autorenlesung: "Plattes Land"

Bernhard Lassahn ist der Miterfinder von Käptn Blaubär und hat mehrere Kinderbücher verfasst. Im Deutschlandfunk liest Lassahn aus seinem unveröffentlichten neuen Kinderbuch "Plattes Land" vor.

24.12.2011
    Oh, ich kann mich noch gut erinnern, ich hatte gerade meinen Führerschein, und es stand mein erstes Weihnachtsfest vor der Tür - das erstes Weihnachtsfest, bei dem ich selber der Weihnachtsmann sein sollte. Wir lebten auf dem Land, auf dem platten Land, wie wir sagten, das richtige Leben war anderswo. Gut dass ich einen Führerschein hatte, dann konnte ich schnell weg. Meine Eltern hatten einen Ford der Marke "Badewanne", man nannte das: die Linie der Vernunft. Ich konnte nur hoffen, dass ich die Linie auch mal benutzen durfte.

    Es kursierten Witze über das Landleben, die ich nicht lustig fand: Da bleibt der Trecker stehen, weil kein Benzin mehr drin ist, der Bauer steigt ab, tritt wütend die Scheinwerfer ein und sagt: Wenn du nicht führst, brauchst du auch nicht gucken. Ich hatte das Gefühl, dass ich den Bauern kannte. Das war mein Nachbar. So stellte ich ihn mir jedenfalls vor. Ich kannte meine Nachbarn gar nicht, ich wusste nicht mal, wie sie alle hießen und wie viele von ihnen in den geheimnisvollen Gehöften wohnten. Wir rückten uns nicht so dicht auf die Pelle.
    Es gab viel Platz zwischen den Häusern. Das war gut so.

    Eigentlich war ich aus dem Alter für Witze raus. Manchmal tat mir das leid, aber das gehörte zum Erwachsenwerden, wie der Führerschein und wie dieses Kribbeln, das mich unvermutet überkam. Mein kleiner Bruder, der ganze zehn Jahre jünger war, ein richtiger Nachzügler also war noch in dem Alter: Kommt ein Verletzter an einen abgelegenen Bauernhof und klingelt. Ein Kind macht auf, der Vertreter fragt: Ist dein Vater da? Der Junge sagt: Nein, der ist tot, vom Trecker überfahren. Oh, sagt der Vertreter, ist deine Mutter da? Nein, sagt der Junge, die ist tot, vom Trecker überfahren. Ist denn dein großer Bruder da?,fragt der Vertreter. Nein, sagt der Junge, auch tot, vom Trecker überfahren. Da sagt der Vertreter: Armer Junge, dann bist du ja ganz alleine. Was machst du denn so den ganzen Tag? Sagt der Junge: Treckerfahren.

    So etwas mochte mein Bruder. Vermutlich wegen der völlig überflüssigen Stelle mit dem großen Bruder. Dabei ist es gar nicht richtig motiviert, dass der Handelsvertreter fragt, was der Junge den ganzen Tag lang macht. Das ist die schwache Stelle bei dem Witz. Die Frage ist offensichtlich nur dazu da, um die Pointe zu ermöglichen. Auch das gehör1e zum Erwachsenwerden: Man wurde kritisch, man sah hinter die Kulissen und glaubte selber nicht mehr an den Weihnachtsmann.

    Es gab keine Berge auf dem platten Land - deshalb nannte man es auch platt -, aber es gab das Gefühl hinter mindestens sieben Bergen zu leben, und dieses Gefühl war immer da, es war allgegenwärtig wie schlechtes Wetter. Die Zeit war stehen geblieben, als hätte eine große Uhr den Geist aufgegeben. Hier lebten nur Nachzügler, wie mein kleiner Bruder. Ich war nicht nur am falschen Ort, ich war auch in der falschen Zeit gelandet. So gesehen passte Weihnachten gut zu uns. Zu Weihnachten sollte noch mal alles so sein, wie es immer schon gewesen war, mit diesen steinalten Leierliedern und den Geschmacksverirrungen aus dem Erzgebirge, die das ganze Jahr über im Keller verwahrt waren -kurz: mit diesen ganzen ollen Karamellen, wie man Bruder sagte, ohne zu merken, dass es nicht so ganz der richtige Ausdruck war.

    Die Aufgabe von so einem Weihnachtsmann bestand hauptsächlich darin, sich die Gedichte anzuhören, die all die kleinen Mädchen und Jungen auswendig gelernt hatten. Zur Belohnung duften sie in den Nikolaussack greifen, unabhängig davon, ob sie das Gedicht fehlerfrei aufgesagt hatten oder nicht. Darin waren Nüsse, Mandarinen und Apfel. Echte Nieten, vom heutigen Standpunkt aus gesehen. Damals gab es noch keine lila Pausen, keine Kinderüberraschung und keine Werbegeschenke. Die Ansprüche waren nicht groß. Wichtig war nur, daß überhaupt ein Weihnachtsmann da war. Und das war ich.

    Ich sollte eine eindrucksvolle Erscheinung sein, und ich war erstaunlich groß für mein Alter, doch ich dufte die Kleinen auch nicht erschrecken. Nicht so, daß sie anfingen zu heulen. Das war schon vorgekommen. Und das war nicht erwünscht. Mir war das recht. Ich wollte sowieso ein sanfter Weihnachtsmann sein. Schließlich hörte man gerüchteweise, daß demnächst die antiautoritäre Erziehung eingeführt werden sollte und daß die Prügelstrafe endgültig der Vergangenheit angehörte. Da wollte ich auch meinen bescheidenen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten und die Rute weglassen. So hatte ich auch weniger Text.

    Es war keine einfache Aufgabe. Denn es gab Leute im Publikum, die sich königlich gefreut hätten, wenn der Weihnachtsmann aus der Rolle gefallen wäre. Ich wusste das. E,s gab welche, die dem Weihnachtsmann gerne ein Bein gestellt hätten. Es war noch nicht so lange her, da hatte ich selber zu diesem Teil des Publikums gehört, ich kannte meine Pappenheimer. Die sahen in dem Auftritt des Weihnachtsmannes vor allem ein Ratespiel, als gäbe es was zu gewinnen, wenn man rauskriegte, wer sich hinter der Weihnachtsmannmaske verbarg. Es war in diesem Jahr nicht schwer zu raten, meine Mutter war Lehrerin an der Zwergschule. Ich gehörte zum engeren Kreis der Verdächtigen. Ich hatte keine richtige Maske, ich wurde einfach nur rot geschminkt, und unterhalb der Nase wurde mir ein imposanter Rauschebart angeklebt. So ausgerüstet sollte ich in den Ring steigen. Ich musste mit einem Publikum rechnen, von dem ein Teil leicht anfing zu weinen und der andere Teil mich gerne ausgelacht hätte.

    Dafür gab es kein Honorar. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß ich eins verlangen dürfte. Ich hoffte allerdings auf einen Nebengewinn. Ich hatte nun Zugang zu dem Weihnachtsmannkostüm, das meine Mutter irgendwoher hatte und nicht sofort zurückgeben musste. Damals war so ein Kostüm eine echte Seltenheit, da gab es noch nicht an jeder Ecke einen Weihnachtsmann, sodass man manchmal an einem einzigen Tag bis zu neun Stück von ihnen in der Fußgängerzone treffen konnte, die so wirken, als wären sie versprengte Mitglieder der Mannschaft einer seltenen Sportart. Jedenfalls sah ich eine Chance, am ersten Weihnachtstag noch etwas Gewinn aus der Sache zu ziehen und - falls ich das Auto benutzen durfte - zu einem entfernt benachbarten Bauern zu fahren und fünf Minuten lang den Weihnachtsmann zu spielen, der sich zwar um einen Tag verspätet hatte, aber darauf kam es auf dem Land nicht an. Hier hinkten sowieso alle der Entwicklung hinterher. Für diese Dienstleistung würde ich ein bescheidenes Trinkgeld kriegen. Über die genaue Höhe hatten wir uns noch nicht geeinigt, aber ich machte mir ernsthaft Hoffnungen auf fünf oder vielleicht sogar zehn Mark.

    Die kleine Weihnachtsfeier in der Schule ging zu Ende. Ich war dran, und es kam, wie ich befürchtet hatte: Ein Teil meines Publikums zeigte sich verschüchtert, der andere Teil kicherte schon, eh ich die Möglichkeit hatte, meine tiefstmögliche Stimme auszuprobieren. Ich stolzierte gemessenen Schrittes durch den Klassenraum, wo sich schon eine Schlange kleiner Kinder gebildet hatte, die alle - angestiftet von den Eltern - ihr Gedicht aufsagen wollten oder mussten.

    Sie wurden ungeduldig; wenn ich sie alle drannehmen wollte, musste ich meine Ansprache stark kürzen, was ich aber gerne tat; denn mit dem Abhören der Gedichte begann der leichtere Teil meiner Weihnachtsmannverpflichtung. Ich fragte in meiner gönnerhaften Stimme, die ich vorher eingeübt hatte, "Wie heißt du denn?", ließ mir den Namen Sagen und versuchte so zu gucken, als wüsste ich nun über ihr Vorleben Bescheid.

    Die meisten sagten erwartungsgemäß "Lieber guter Weihnachtsmann, guck mich nicht so böse an ..."; ich musste dazu möglichst freundlich gucken, wie es in dem Gedicht gefordert wurde, und die Nachwuchsschauspieler, aus denen nie was werden würde, kurz in den Sack greifen lassen. Das war alles. Es lief gut. Dann war ein kleines Mädchen an der Reihe, das offenbar von meinem Kostüm sehr beeindruckt war. Vielleicht zu sehr. Sie guckte mich mit großen Augen an und schwieg, während hinter ihr die Kinder zappelig wurden. Sie brauchte viel zu lange, um sich auf die Frage nach ihrem Namen zu einer Antwort durchzuringen: "Ilse!" So war das: Hier hatten schon die Kleinen eine extrem lange Leitung.

    "Na, meine liebe Ilse","
    sagte ich möglichst langsam,
    ""möchtest du denn für den Weihnachtsmann ein Gedicht aufsagen?"

    "Nein","
    sagte Ilse überraschend schnell, - und da war auch schon dieses bedrohliche Kichern vom kritischen Teil meines Publikums zu hören. Hoffentlich fing sie nicht gleich an zu weinen.
    ""Nun,"
    sagte ich und musste aufpassen, meine Stimme unter Kontrolle zu halten und mir gleichzeitig etwas auszudenken, um aus der Situation rauszukommen,

    "nun, meine liebe Ilse, kannst du denn ein Lied singen?"

    Sie dachte nach und sagte schließlich:
    "Ja!"

    Sie sagte einfach"Ja" und schwieg. Wie es auch mein Bruder so gerne tat: wenn ihn einer fragte: Kannst du mal den Honig rüber reichen?, sagte er: Ja, kann ich - tat es aber nicht, er kam sich auch noch besonders schlau dabei vor und spielte obendrein den Beleidigten, weil man sein Fähigkeit, das Honigglas anzuheben infrage gestellt hatte. Einmal hatte ich den Fehler gemacht und hatte - nur um seine Frage abzuwimmeln - mit der Floskel geantwortet: Ach, frag mich was Leichteres. Als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet, fragte er sofort begeistert: Wie viel ist zwei plus zwei? Er war nicht der Einzige, der sich so benahm. Es war eine Art Landessitte in diesem verdammten Trecker-Land. Eine Bauernregel, die einen lehren sollte, nicht so viele dumme Fragen zu stellen! Ich riss mich zusammen und sagte mit meiner tiefstmöglichen Stimme:

    "Na, dann sing doch mal!"

    Ilse überlegte und fing schließlich an:
    "Der Hans treibt die Ochsen, die Liesel die Küh', Li -, Li -, Liesel die Küh', Li -, Li -, Liesel die Küh'!"

    Ich musste mir die Hände auf den Mund pressen, um nicht laut aufzulachen. Es sah wahrscheinlich so aus, als wollte ich den Bart festhalten. Das Publikum lachte. Die durften das. Ich nicht. Ich versuchte mir einzureden, dass sie nicht über mich, sondern über das Mädchen lachten, über ihr Lied und über die Kühe, die an Weihnachten nichts zu suchen hatten, abgesehen von einem Ochsen als Statisten neben der Krippe. Der Junge, der nach Ilse an der Reihe war, lachte erstaunlicherweise nicht, er wirkte sehr nachdenklich und sah mich mit einem Blick an, als würde er alles durchschauen. Ich musste eine Pause einlegen, hustete künstlich und tat, als hätte ich mich verschluckt. Dann ging es weiter, doch ich hatte das Gefühl, dass es nur noch pro forma weiterging.

    Ich hatte versagt, auch wenn ich mir eigentlich nichts vorzuwerfen hatte. So eine Ilse konnte mit ihren Kühen jeden Weihnachtsmann hochgehen lassen. Andererseits konnte ich ganz zufrieden sein. Immer wieder hatte das Telefon geklingelt, und damals war es noch etwas Besonderes, wenn es überhaupt mal klingelte. Und es waren keine telefonischen Weihnachtswünsche, die da angeklingelt kamen. Es war die Nachfrage nach mir. Nach mir als Weihnachtsmann. Irgendwie musste sich herumgesprochen haben, dass ich immer noch das Kostüm hatte, und nun fragten wildfremde Menschen an, ob ich nicht kurz bei ihnen vorbeikommen könnte, gegen ein kleines Trinkgeld, versteht sich. Offenbar hatte die Geheimhaltung gar nicht funktioniert. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken angesichts der Trinkgelder, die mir nun winkten. Ich hörte schon im Geiste die Kasse klingeln. Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit.

    Ab dem dritten Anruf fing ich an, Bedingungen zu stellen: Ich würde nur als fortschrittlicher Weihnachtsmann erscheinen, das hieß im Klartext: ohne Rute. Ich würde keinem Kind irgendwelche kleinen Sünden vorwerfen, nur Geschenke überbringen. Weihnachten ist die Zeit der Geschenke und nicht der Abend der Rache. Ich hatte selber kleine Sünden auf dem Konto, dazu gehörte allein schon mein Schielen nach dem schnöden Geld ausgerechnet zur Weihnachtszeit; denn ich war eigentlich gegen die zunehmende Kommerzialisierung, die man vor allem in der Stadt beobachten konnte. In dem Moment aber, in dem ich davon profitieren konnte, geriet ich erstaunlich schnell in Versuchung, meine Grundsätze sausen zu lassen - rein war mein Herz also nicht. Außerdem verstieß ich gegen meine eigenen Geschmackskriterien. Unter den Bedingungen konnte ich nicht auch noch die Verfehlungen anderer Kinder aufrechnen.

    Meine Mutter machte sich Sorgen, wie nicht anders zu erwarten war. Es könnte glatt sein auf den Straßen. Ich sollte ganz, ganz vorsichtig fahren und immer gut aufpassen. Aber an derart allgemeine Ratschläge kann man sich grundsätzlich nicht halten.

    Meine privaten Auftritte waren sehr erfolgreich. Ich hatte ein ausschließlich unkritisches Publikum. Es war in den letzten Tagen so kalt geworden, daß die Bauern eine Wolldecke hinter die Tür gehängt hatten. Ich stellte mich kurz hinter die Decke und konnte so meinem Auftritt eine leicht theatralische Note verleihen, als wäre die Wolldecke ein Vorhang. Ich musste mir nur die Namen der Kinder merken. Dazu machte ich mir einen Mogelzettel und legte den in ein altes Klassenbuch. Ein Klassenbuch durfte zwar streng genommen nicht aus der Schule entfernt werden, auch nicht, wenn es vom Vorjahr war, - aber ich bewegte mich sowieso in einer moralischen Grauzone.

    Das Trinkgeld, das mir zugesteckt wurde, war ungeheuer großzügig für damalige Verhältnisse. Natürlich sah ich in der Höhe meiner Gage vor allem einen Ausdruck des schlechten Gewissens meiner Auftraggeber, die vermutlich ihre Versäumnisse durch eine Großzügigkeit an der falschen Stelle ausgleichen wollten. Ich hatte schon nach zwei Auftritten über zwanzig Mark zusammen und noch drei weitere Verpflichtungen vor mir.

    Doch die Wege auf dem platten Land waren weiter, als ich sie in Erinnerung hatte, und wenn ich alle Aufträge erledigen wollte, die ich auf meiner Liste hatte, musste ich schneller fahren, als es der Linie der Vernunft entsprach. Bei einem hastigen Versuch, den Wagen auf freier Strecke zu wenden und dabei einen dieser nicht verkehrsgerecht markierten Trampelpfade zu nutzen, rutschte dem ungeduldigen Weihnachtsmann sein Auto aus und glitt in den Straßengraben. Es war nur ein kleiner Ausrutscher. Doch dummerweise war der Graben an der Stelle so tief, dass ich nicht ohne fremde Hilfe wieder herauskam. Ich stieg aus und sah mir die Bescherung an. Wenn man etwas zurücktrat, sah es sehr eindrucksvoll aus: So als würde mitten in der weißen Landschaft das Heck eines Autos steil in die Luft ragen. Es erinnerte an Bilder vom Untergang der Titanic, von dem Augenblick, als das Schiff inmitten von Eisbergen unterging.

    Kurz davor. Viel war da nicht mehr übrig. Der kleine Rest von dem Auto ging fast unter in dem Panorama der verschneiten Winterlandschaft. Ein besonders tolles Panorama war es sowieso nicht. Hier gab es nun mal nicht viel zu sehen. Nur ein dünner Holzpfahl ragte einsam in den Himmel. Ich hatte keine Ahnung, wozu der gut sein sollte, aber daran hatte ich mich gewöhnt: Auf dem platten Land standen manchmal Sachen rum, von denen vermutlich keiner wusste, wozu die gut sein sollten.

    Ich wusste, was ich zu tun hatte, meine Führerscheinprüfung lag noch nicht sehr lange zurück: Zuerst musste die Unfallstelle markiert werden. Besonders sinnvoll erschien mir das eigentlich nicht, weil keine Gefahr für den sowieso nicht vorhandenen Verkehrsfluss bestand. Aber das war nun mal Vorschrift, und ich hatte mir vorgenommen, mich zumindest in meiner Anfangszeit als Autofahrer streng an die Regeln zu halten. Ich zog meinen Weihnachtsmannmantel aus, warf ihn über den Pfahl - und schon hatte ich ein deutliches, rotes Notsignal geschaffen.

    Ich lief mit wehendem Rauschebart auf das nächste Gehöft zu und klingelte Sturm. Mir war ruckartig kalt. Ein Junge, der mir irgendwie bekannt vorkam, öffnete und starrte mich erstaunt an. Das war nun wirklich eine Überraschung der besonderen Art: Da stand der Weihnachtsmann mit Rauschebart in der Unterhose. Ich hatte mir nämlich Mühe gegeben, ich wollte unbedingt vermeiden, dass meine Jeans verräterisch unter dem Mantel hervorschauten, also hatte ich extra keine Hose angezogen, nur Kniestrümpfe. ich sah aus wie gerupft. In so einem Aufzug konnte ich unmöglich sagen: Draußen vom Walde komm ich her, ich muss schon sagen, es weihnachtet sehr. Mir war sowieso nicht danach zumute. Ich durfte keine Zeit verlieren, ich musste schnell zu Hause anrufen und bitten, dass sich mein Vater das Auto vom Nachbarn auslieh, ein Abschleppseil
    mitbrachte und die Linie der Vernunft aus dem Graben zog.

    "Ist dein Vater zu Hause?",

    fragte ich den Jungen und verstellte dabei meine Stimme und sprach so tief wie möglich, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Es kam ganz automatisch.
    "Nein", sagte er nach einer Pause, als hätte er ausgiebig darüber nachdenken müssen.

    "Ist denn deine Mutter zu Hause?"
    Wieder Pause. Nachdenken.

    "Nein", sagte der Junge.

    Ich verzichtete auf die Frage, ob er zufällig einen großen Bruder hatte, ob der womöglich zu Hause war und - falls nicht - was der denn so den ganzen Tag lang machen würde. Ich verzichtete auch auf die Frage, ob sie ein Telefon hätten, denn ich sah schon, dass es eines gab. Damals waren die Telefone oft im Flur; man ließ einen Fremden, auch einen fremden Anrufer, nicht so schnell in die gute Stube und schon gar nicht ins Schlafzimmer. Der Junge hätte wahrscheinlich nach längerer Überlegung gesagt: Das weiß ich nicht. Mein Bruder hätte es in quälender Ausführlichkeit begründet: Ich glaube schon, dass du das kannst, aber ob du es auch darfst, das ist eine ganz andere Frage.

    Der Junge sperrte den Mund zu stummem Protest auf, als ich ohne Genehmigung an ihm vorbei zum Telefon ging. Vielleicht fiel ihm auch meine Armbanduhr auf. Ich hatte vorgehabt, sie abzunehmen; hatte es aber vergessen. Ein Requisitenfehler, der nicht auffiel, solange ich den weiten Mantel anhatte. Nun aber. Was bot ihr hier für ein blamablem Auftritt: Ein ungezogener Weihnachtsmann in Unterhose mit Armbanduhr ich konnte verstehen, dass der Junge mit dieser Kombination von Eindrücken überfordert war. Er sah mich an, als könnte er einfach nicht glauben, was er da zu sehen kriegte. Jetzt erkannte ich ihn auch wieder. Es war die Art, wie er mich mit einer Mischung aus Missbilligung und Angst anstarrte. Das hatte ich schon mal gesehen. Er war der nachdenkliche Junge, der hinter Ilse gewartet hatte und mich da auch schon so seltsam angesehen hatte.

    Hastig wählte ich unsere dreistellige Nummer: Meine Mutter war dran. Auch das noch. Wenn sie sich in ihre Sorgen hineinsteigerte, konnte sie ein Tempo entwickeln wie bei einem Sportwagen, der von Null auf Hundert in Nullkommanichts beschleunigt.

    "Bist du verunglückt?",
    rief sie so laut, dass der Kleine das mit anhören konnte.
    "Aber nein",
    sagte ich mit meiner normalen Stimme,
    "Es ist nichts passiert, ich wollte nur anrufen und fragen, ob ihr mal kurz das Auto vom Nachbarn ausleihen könntet und hier vorbeikommen, ihr solltet vielleicht noch ein Abschleppseil ..."

    "Bist du verletzt?", brüllte meine Mutter.

    "Um Himmels willen, nein, sonst könnte ich doch nicht telefonieren ..."

    Der Junge sah mich an. Es sah aus, als wollte er etwas Sagen und wüsste nur noch nicht was. Es war bestimmt nicht leicht für ihn, sich einen Reim auf das alles zu machen: nicht nur dass der Weihnachtsmann von einem Tag auf den anderen anders aussehen konnte. er konnte auch mit verschiedenen Stimmen sprechen.

    "Wo bist du überhaupt?", schrie meine Mutter.
    Das wusste ich auch nicht. Ich musste das Kind fragen.
    "Was ist das hier für eine Adresse?"

    Der Junge sah mich staunend an.

    "Wie heißt du denn?"

    "Das habe ich schon gesagt", antwortete er nach einer kleinen Pause.

    Stimmt. Das hatte er.
    "Das war gestern!"
    Ich versuchte, möglichst streng zu gucken.
    "Ich hab's vergessen."
    "Martin!", sagte das Kind.

    Inzwischen war mir egal, ob mein Verhalten zu einem Weihnachtsmann passte oder nicht, und fragte in unhöflichem Ton:
    "Und wo wohnst du?"

    "Hier!", sagte Martin.

    Dann ging er und ließ mich in dem Flur stehen. Vielleicht hatte ich zu böse geguckt. Vielleicht hatte er Angst vor mir. Wie auch immer, ich nutzte die Gelegenheit, um nun so gut und so schnell - wie möglich eine Lagebeschreibung abzugeben.

    "Also: Ihr fahrt die Straße raus Richtung Schledehausen. Immer weiter ... Da seht ihr dann eine große, rote Signalflagge an einem Pfahl ... der ist nicht zu übersehen ..."

    Martin war wieder da. Mit zwei Mandarinen. Eine in jeder Hand. Vermutlich waren es die Mandarinen, die er sich als Belohnung aus dem Sack gefischt hatte, nachdem er brav sein Gedicht vorgetragen hatte. Die Verwunderung schien nun aus seinem Blick gewichen, ich meinte stattdessen, eine gewisse Geringschätzung zu erkennen, so als wollte er mir sagen: Ich lass mich doch nicht für dumm verkauf-en, so blöd bin ich auch nicht.

    "Kannste wiederhaben",

    sagte er und streckte mir die Mandarinen hin.


    Bernhard Lassahn
    Plattes Land (noch unveröffentlicht)