Samstag, 20. April 2024

Archiv

Autorin Lange-Müller über den Mauerfall
"Das war so was wie eine Kehrtwende"

Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller siedelte schon 1984 nach Westdeutschland über. Am Tag des Mauerfalls am 9. November 1989 fühlte sie sich dennoch wie "noch einmal zur Welt gebracht", sagte sie im Dlf.

Katja Lange-Müller im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 03.08.2019
Die Autorin mit Brille an ein Geländer gelehnt vor dem Brandenburger Tor. Sie schaut in die Kamera Berliner Akademie der Künste Katja Lange-Müller "Drehtür", Verlag Kiepenheuer & Witsch Buchpremiere in der Berliner Akademie der Künste Begrüßung: Friedrich Christian Delius Einführung und Gespräch: Denis Scheck am Dienstag, 30.8.2016
Katja Lange-Müller hatte beim Mauerfall schon fünf Jahre Vorsprung vor den meisten Ostberlinern. Sie hatte 1984 rübergemacht. (imago images / gezett)
Maja Ellmenreich: War die so genannte Wende vor 30 Jahren für Sie in Ihrer damaligen Lebenssituation auch noch mal eine Wende? Oder waren Sie eher eine Beobachterin?
Katja Lange-Müller: Das war sogar so was wie eine Kehrtwende. Ich habe damals geschrieben in mein Tagebuch: "Ich fühle mich, als säße ich in einem Zug. Und alle Bäume, an denen ich schon mal vorbeigefahren bin, kommen mir plötzlich wieder entgegen."
Ich sah einfach, dass jetzt auf Menschen eine Erfahrung zukommt, die ich schon gemacht hatte. Die Erfahrung, dass alles, was man bis zu einem gewissen Zeitpunkt gelernt hatte – auch an Lebenstechniken – von einem Moment auf den nächsten nicht mehr wirklich funktioniert. Dieses Abwarten und Ruhigbleiben und davon ausgehen, dass man schon eine Wohnung zugewiesen bekommen wird. Dass man, um zu einem Telefon zu kommen, vielleicht sich bestimmte Bestechungsstrategien zurechtlegen muss. Dass man sich um seinen Arbeitsplatz überhaupt nicht kümmern braucht, weil nicht arbeiten ein Straftatbestand war. Vagabundismus und Bummelei, das war unter Strafe gestellt. Dass es ein Recht zu arbeiten gab und nicht die Pflicht zu arbeiten. All diese Dinge waren im ersten halben Jahr nach dem Fall der Mauer von den Menschen nicht bemerkt worden, aber sehr bald dann doch. Spätestens nach dem Vereinigungsvertrag war dann vieles sehr anders.
West-Berliner Hamsterkäufe im Osten
Aber auch für die West-Berliner. Das fand ich auch sehr interessant, wie die auf das reagiert haben. Ich sage mal: Das primäre Geschlechtsmerkmal ist in dem Fall "deutsch", ne? Also, zunächst mal, es war ja kurz vor Weihnachten, sah ich meine Nachbarn im Wedding, wo ich wohne, plebejische Menschen, sofort schalten: "Aha, also noch ist ja der Umtausch 1:7 oder 1:8!" Die stürzten sofort los mit Beuteln und Rucksäcken, um im Osten Weihnachtsgänse abzustauben. Gefrorene Enten brachten die wirklich kiloweise mit, und Butter.
Es war wie nach dem Krieg: Jetzt gehen sie wieder hamstern. Das fand ich irgendwie sehr interessant, dass sofort dieses Bedürfnis, sich, solange die Situation derart unklar ist, billig mit allem Möglichen einzudecken, was es im Osten eben gab und was früher niemanden interessiert hatte. Von den Studenten schon gar nicht, die wären nie auf die Idee gekommen, ihre Begrüßungsgelder für Enten oder Gänse auszugeben oder Butterstücke. Aber so war das erst mal.
Und natürlich fiel auch die Berlin-Zulage weg. Und man hatte wirklich einfach das Problem, wenn man ein Taxi erwischte und wollte nach Grünau, der Typ aber war aus dem Prenzlauer Berg, dann hat der gesagt: "Ja, Grünau, keen Problem." Aber wenn's einer aus Kreuzberg war, dann sagte der: "Grünau? Nee, da fahr ick nich hin. Dit is ja die ehemalige Zone!" Das war alles ziemlich durcheinander.
"Chaotischer Umstruktierungs- und Umbausumpf"
Dann entstanden diese riesigen Baulöcher. Bauarbeiter streikten, und sofort stieg der Grundwasserspiegel, und man wusste, woher der Name Berlin kommt und dass das "Morast/sumpfiges Gelände" bedeutete. Das konnte man zu keiner Zeit so genau studieren und beobachten wie wenige Jahre nach der Wende, als die Stadt wirklich in einem chaotischen Umstruktierungs- und Umbausumpf, muss man schon sagen, zu versinken drohte. Ja, das waren Wendepunkte, die sicherlich von vielen Westdeutschen gar nicht so wahrgenommen wurden - aber von Westberlinern schon in einem weitaus größerem Maße.
Ellmenreich: Sie haben das Wort "Wende" gerade in "Kehrtwende" umformuliert.
Lange-Müller: Das war bei mir so, also nur emotional. Also, ich dachte: "Oh, Mann!" Klar, ich hatte irgendwie etwas hinter mir gelassen und ging davon aus, auch emotional, dass ich den Boden der Deutschen Demokratischen Republik nie wieder betreten würde und bestimmten Menschen auch nie wieder begegnen würde.
Und plötzlich standen diese Menschen, von denen ich meinte, dass ich ihnen nie wieder begegnen würde, vor meiner Wohnungstür und gaben sich die Klinke in die Hand. Meine Wohnung glich irgendwie anderthalb Monate lang dem Nachtlager von Granada. Ich wurde sozusagen an den Punkt zurückkatapultiert, von dem aus ich aufgebrochen war, als ich selber an einem bestimmten Tag im November mit einem Köfferchen die Grenze passierte, ohne die Stadt zu verlassen.
Verwirrung und Verunsicherung
Ellmenreich: Ihre persönliche Wende war eine viel persönlichere und eine viel kleinere und individuellere. Haben Sie eigentlich das Große im Kleinen schon vorweggenommen?
Lange-Müller: Ja, genau, so kann man es sagen. Ich wusste auch, was auf die zukommt. Ich ahnte, was für eine Verwirrung das stiften wird und welche Verunsicherungen daraus hervorgehen würden. Und all das ist dann ja auch so eingetreten, weil ich es eigentlich schon durch hatte. Ich hatte es ja schon erlebt.
Ellmenreich: Aber Sie wussten, dass die Wendeerfahrung jeder Einzelne noch mal für sich selbst machen muss. Da konnten Sie keinem helfen mit Ihrer Wendeerfahrung.
Lange-Müller: Ich wollte auch keinem helfen! Weil die hatten ja eigentlich noch alles. Auch viele der Künstler, die Pässe hatten, die mussten weder ihren Schrebergarten aufgeben noch ihre Möbel verkaufen noch ihre einzigen wertvollen Bücher und ihre Lieblingspullover – wie das diejenigen mussten, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Insofern waren die schon in einer besseren Situation und gleichzeitig auch in einer schlechteren.
"Ich hatte ja wirklich gar nichts"
Für mich war das Ankommen im Westen, als hätte ich mich selbst noch mal zur Welt gebracht. Ich hatte ja wirklich gar nichts, stand einfach da und dachte: Jetzt musst Du völlig neu anfangen. Die meisten DDR-Bürger hingegen mussten irgendwie das Alte mit dem Neuen verbinden. Und das ist ein großer Unterschied, ob Du an einem Punkt bist, wo Du Dir sagst: Hier geht es nicht weiter! Du musst einfach weg! Oder ob Du an einem Punkt bist, wo Du denkst: Na ja, okay, ich wollte Veränderung, aber ich wollte eigentlich kein neues System. Das sind sehr, sehr große Unterschiede. Zwar hatten die materiell vieles behalten, von dem sich bald herausstellte, dass es eigentlich wertlos war. Aber sie hatten nicht diesen… also, das, was auf sie zukam, verdankten sie nicht so deutlich einem Schlusspunkt, den sie selbst gesetzt hatten.
Ellmenreich: Nun wissen wir, dass man rückblickend seinem Leben keine andere Wendung geben kann. Es ist nun mal alles so gekommen wie es gekommen ist.
Lange-Müller: Ich habe eine Freundin, die sagt so was immer. Die fährt los mit einem drei Stunden zu spät. Und es scheint natürlich nicht die Sonne am Tag dieses Ausfluges, sondern es regnet in Strömen. Und dann fährt man also in irgendeinen Wald, vorgeblich um Pilze zu suchen. Und dann steht die Karre im Dreck, und das Benzin ist alle und die nächste Tankstelle vier Kilometer weit entfernt. Und dann sagt sie: So isset nu gekommen.
Ellmenreich: Können Sie dem was abgewinnen?
Lange-Müller: Dieser Satz – so ist es nun gekommen – ist grandios, weil dem kannst Du nicht widersprechen. Wenn jemand sagt, so ist es nun gekommen, dann weißt Du nur… Das ist so ein Punkt, von dem aus man sehr genau überlegen muss, wie man diesem Punkt man jetzt entkommt.
"Schicksalsschläge sind eben Schläge"
Ellmenreich: Plädieren Sie also dafür, den Wendungen des Lebens sich hinzugeben und nicht zu sehr sich dagegen zu wehren – wie zum Beispiel die Charaktere in literarischen Texten das tun?
Lange-Müller: Ich weiß gar nicht, ob man das von jemandem verlangen kann. Es gibt Schicksalsschläge, die ja nicht umsonst so heißen. Das sind eben Schläge! Die tun auch weh. Man kann sich gegen die auch wirklich nur schwer wehren. Wenn man so weise wäre, dann nicht zu hadern und zu sagen: Warum trifft dieses Los nun wieder ausgerechnet mich? Dann wäre man wahrscheinlich in der besseren Situation. Aber das ist dem Menschen nicht gegeben. Im Gegenteil. Eigentlich macht er für all das, was ihm widerfährt, immerfort die anderen verantwortlich.
Ellmenreich: Das Wort "Schicksalsschlag" – da schwingt ja was sehr Martialisches mit. Und das ist ja auch die Erfahrung, die man macht bei einem Schicksalsschlag. Wie finden Sie den Begriff "Wendepunkt"? Ist der versöhnlicher?
Lange-Müller: Ja, er ist – sagen wir mal – unter kosmetischem Aspekt weniger scharf. Manche Wendepunkte sind wahrscheinlich wirklich nur das: Wendepunkte. Bei Schicksalsschlägen kann man es vielleicht erst im Nachhinein sagen, ob sie Wendepunkte waren. Wenn jemand sagt: Es muss anders werden – dann meint er damit in aller Regel, dass es besser werden muss. Aber nicht jede Veränderung ist per se eine Verbesserung. Und nicht jeder Wendepunkt führt dazu, dass Du klüger oder geläutert aus der Situation wieder herausfindest. Es gibt auch Wendepunkte, die dermaßen existentiell sind, dass sie diejenigen, die an ihnen stehen, vernichten, ne?
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Katja Lange-Müller wurde 1951 in Ost-Berlin geboren. Ihre Romane und Erzählungen wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie 1986 den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2008 den Wilhelm Raabe-Literaturpreis und im Jahr 2013 den Kleist-Preis. "Drehtür", ihr jüngster Roman, ist 2016 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Katja Lange-Müller lebt in Berlin.