Donnerstag, 25. April 2024

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Bachs Weihnachtsoratorium in Katalonien
Andacht und Freude

Jordi Savall ist ein anerkannter Spezialist für historische Aufführungspraxis. Mit seinen Ensembles La Capella Reial und Le Concert des Nations hat er 2019 an zwei Abenden das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach aufgeführt. Der Mitschnitt begeistert als lebendige musikalische Erzählung.

Am Mikrofon: Franziska von Busse | 20.12.2020
    Der weißhaarige Dirigent Jordi Savall trägt schwarzes Sakko und weißes Hemd mit Stehkragen. Er dirigiert mit der rechten Hand und blättert mit der linken die Noten auf dem Pult vor ihm um.
    Im Dezember 2019 führte Jordi Savall mit seinen Ensembles das Weihnachtsoratorium im Palau de la Musica Catalana in Barcelona auf (Antoni Bofill/EBU Radio Catalunya)
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 1. Teil, Chor "Jauchzet, frohlocket"
    Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium existiert in zahlreichen Aufnahmen,von salbungsvoll bis protestantisch-schnörkellos, von romantisch-lyrisch bis historisch informiert.
    Der Katalane Jordi Savall beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Als Gambist hat er Bachs Sonaten eingespielt, mit seinen Ensembles unter anderem die H-Moll-Messe, das Magnificat, die Brandenburgischen Konzerte und die Markuspassion aufgenommen.
    Im Frühjahr ist eine CD mit der Matthäuspassion erschienen; ebenfalls ein Konzertmitschnitt aus Barcelona, wie das Weihnachtsoratorium auch. Savall und seine Musikerinnen und Musiker sind genau vertraut mit Bachs komplexer Tonsprache. So gut, dass sie sie im wahrsten Sinne "flüssig" beherrschen. Sie können damit umgehen, als sei es das Einfachste, Natürlichste der Welt.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 1. Teil, Choral "Wie soll ich dich empfangen"
    Die Geschichte von der Geburt Christi in Episoden erzählt
    Heute wird das Weihnachtsoratorium meistens als ein zusammenhängendes Werk betrachtet. In gewissem Sinn ist es das auch. Aber: Bach selbst hat es nicht als ein großes Ganzes geplant, sondern sechs einzelne Kantaten geschrieben für die Festtage zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar im Winter 1734/35. Dafür hat er, was für ihn typisch ist, auch auf älteres Material zurückgegriffen, teilweise auch auf weltliche Werke.
    Dramaturgisch betrachtet ist das ungefähr derselbe Unterschied wie zwischen einem Film und einer Serie: Bach erzählt episodisch anstatt in einem großen Bogen: Von der Geburt des Jesuskindes im Stall in Bethlehem, von den Hirten auf den Feldern, die sich nach der Verkündigung der Engel auf den Weg machen, das Kind anzubeten. Und schließlich vom Besuch der drei Weisen aus dem Morgenland, deren Frage nach dem "Neugeborenen König der Juden" das Misstrauen des regierenden Königs Herodes weckt.
    Eine zentrale Rolle spielt dabei der Evangelist, der in seinen Rezitativen die Handlung erzählt.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 1. Teil, Rezitativ, "Es begab sich aber zu der Zeit"
    Den Deutschen Tenor Martin Platz hat Jordi Savall für seine Aufführung und Aufnahme in Barcelona als Evangelisten gewonnen. Und auch zwei der drei anderen Solostimmen sind deutsche Muttersprachler: Die Sopranistin Katja Stuber und der Bass Thomas Stimmel. Das ist eine nachvollziehbare Idee bei einem Werk mit so viel Verkündigungs-Charakter.
    Freude und Jubel tönen anders als inniges Gebet
    Allerdings ist es im Oratorium wie im "echten Leben": Ein Großteil der Botschaft erreicht uns non-verbal. Von Szene zu Szene finden wir uns in einer jeweils anderen Klangwelt wieder.
    Freude und Jubel über die Geburt Christi erschallen in großer Besetzung, mit Pauken und Trompeten. Arien, die sich dem Gebet oder der Innenschau widmen, werden solistisch begleitet: Mit Streichern, mit Flöte, mit der Oboe d’amore, für deren Klang Bach eine große Vorliebe hatte. Tiefe Streicher beschwören die Bedrohung herauf, die vom eifersüchtigen König Herodes ausgeht. Und zu Beginn des zweiten Teils erleben wir eine friedliche Nacht bei den Hirten auf dem Feld.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 2. Teil, Pastorale
    Jeweils zwei Traversflöten, Oboen d’amore und Oboen da caccia bestimmen das musikalische Bild in der Pastorale zu Beginn des zweiten Teils in Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium.
    Natürliches Spiel auf historischen Instrumenten
    Jordi Savall kann sich hier ganz auf den weichen Klang der alten Holzblasinstrumente verlassen – und auf das Können seiner Instrumentalisten. Da ist es etwa auch gar nicht nötig, den wiegenden 12/8 Takt überdeutlich zu strukturieren. Die Musik darf einfach fließen.
    Dieser ganz natürliche Fluss ist das eine, was diese Aufnahme so besonders schön macht. Das andere ist der kreative und gekonnte Umgang mit den vielfältigen klanglichen Möglichkeiten in Bachs Musik.
    Die Tempi sind insgesamt zügig, aber nirgends gewollt rasant, sondern auch eher im Sinn des flüssigen Erzählgestus gedacht.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 3. Teil, Chor "Lasset uns nun gehen"
    Nicht eilig aber voller froher Zuversicht schlagen die Hirten den Weg nach Betlehem ein, in dieser Bach-Aufnahme mit der Capella Reial de Catalunya und dem Concert des Nations geleitet von Jordi Savall.
    Freude und Zuversicht sprechen aus der Musik
    Diese Beschwingtheit zieht sich als Grundstimmung durch alle sechs Kantaten und belebt auch und gerade die langsameren, besinnlicheren Sätze. Wenn zum Beispiel die Solo-Sopranistin Katja Stuber und der Solo-Bassist Thomas Stimmel im dritten Teil gemeinsam singen: "Herr, Dein Mitleid, Dein Erbarmen tröstet uns und macht uns frei" – dann ist dabei völlig klar: Das ist kein frommer Wunsch, keine bange Hoffnung auf jemanden der kommen wird und trösten. Dieser Jemand ist schon erschienen! Eine Interpretation, die Sinn ergibt: Bach hatte die Kantate für den 27. Dezember vorgesehen.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 3. Teil, Duett "Herr, Dein Mitleid, Dein Erbarmen"
    Keiner der drei deutschen Solisten, die Jordi Savall für diese Bach-Aufnahme verpflichtet hat, gehört zu den großen Namen in der Alte-Musik-Szene oder ist auf Barockmusik spezialisiert.
    Solostimmen als Teil des Ensembles
    Jordi Savall scheint hier vor allem danach gegangen zu sein, wer gut "ins Team" passt: Alle drei klingen schlank und edel; der Bass Thomas Stimmel kann darüber hinaus mühelos von "lyrisch" auf "kraftvoll-dramatisch" umschalten, wenn sein Part das verlangt.
    Die Besetzung des vierten Solisten ist ein wenig ungewöhnlicher, wenn auch nicht völlig unüblich: Der italienische Countertenor Raffaele Pe singt die Altpartie, bei Bach nicht nur die Verkörperung der Gottesmutter Maria, sondern auch des Glaubens an sich.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 3. Teil, Arie "Schließe, mein Herze"
    Bei ihm könnte man vielleicht doch von einer Starbesetzung sprechen, beim Countertenor Raffaele Pe, der nicht nur mit Jordi Savall schon mehrfach zusammengearbeitet hat, sondern auch als barocker Opernheld weltweit auftritt. Hier ist er ganz Herz, ganz Seele: Als Altstimme in Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium, begleitet vom Konzertmeister des Concert des Nations, Manfredo Kraemer.
    Verständliche Texte dank Aussprache-Training
    Anders als für die übrigen drei Solisten ist für Raffaele Pe und auch für den Chor die deutliche und saubere deutsche Aussprache nicht selbstverständlich. Dass alle ihre Sache trotzdem sehr überzeugend machen, ist auch das Ergebnis eines sorgfältigen Trainings im Vorfeld. Und das letzte bisschen südliche Färbung – vor allem in den Vokalen – das stellt eher eine interessante Bereicherung dar als einen Fremdkörper.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 3. Teil, Chor "Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen"
    Nur etwa zwanzig Sängerinnen und Sänger bilden den Chor der Capella Reial de Catalunya, der hier alles andere als "matte Gesänge" anstimmt, wie es im Text des gerade gehörten Satzes heißt. Aus voller Brust tönen vielmehr Lob und Dank und Jubel in den großen Chören; ernst und klar und andächtig laden die Choräle zum Mit-Denken ein.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 6. Teil, Choral "Ich steh' an Deiner Krippen hier"
    Auf zwei aufeinanderfolgende Abende hatte Jordi Savall "sein" Weihnachtsoratorium verteilt, im Dezember 2019.
    Atmosphäre wie in einer Kirche
    Der berühmte Musiktempel Palau de la Musica Catalana in Barcelona ging dabei gut als eine Art "sakraler" Aufführungsort durch: Mit seinen farbigen Fenstern, dem bunten Glasdach, der prächtigen Orgel und der satten Akustik, die tatsächlich eher an eine Kirche erinnert als an einen Konzertsaal. Der Palau ist seit seinem Bau vor gut einhundert Jahren das Zuhause des katalanischen Volkschors Orfeó Català und deshalb auf einen besonders schönen Chorklang hin ausgerichtet.
    Unter Savalls Leitung verbindet er sich sehr atmosphärisch mit dem des Orchesters Le Concert des Nations. Und die Aufnahmetechnik macht es dem Hörer der CD darüber hinaus möglich, die vielen einander überlagernden Einzelheiten in Bachs Musik wahrnehmen zu können; genauso wie den Farbenreichtum der historischen Instrumente.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 4. Teil, Choral "Jesus, richte mein Beginnen"
    Da verbreiten auch die Blechbläser Glanz, die Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium nur an einzelnen Stellen strategisch einsetzt. Etwa hier im Choral aus der vierten Kantate "Jesus, richte mein Beginnen".
    Vertraut mit Bach und miteinander
    Es ist das erste Mal, dass Jordi Savall sich an eine Aufnahme des Weihnachtsoratoriums gemacht hat. Dennoch ist die große Vertrautheit, die intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bachs Musik bei allen Beteiligten deutlich spürbar.
    Die Live-Aufnahme ist als Doppel-CD bei Savalls eigenem Label, Alia Vox, herausgekommen. Eine sehr klangsinnliche Version, die an vielen Stellen geradezu weihnachtlich leuchtet. Dazu kommt, dass Savall und seine Mitwirkenden nicht "die eine Idee" vom Werk vermitteln wollen. Sie orientieren sich Satz für Satz an der Musik. Am Text. Auf diese Weise entsteht ein vielfältiges, packendes Ganzes.
    Musik: J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 6. Teil, Chor "Nun seid Ihr wohl gerochen"
    Johann Sebastian Bach:
    Weihnachtsoratorium BWV 248
    Katja Stuber (Sopran), Raffaele Pe (Countertenor), Martin Platz (Tenor), Thomas Stimmel (Bass), La Capella Reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall (Leitung)
    2 Super Audio CDs
    Alia Vox 10339633