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Balance zwischen Wildwuchs und Kontrolle

In was für Städten werden wir später leben? Mit dieser Frage soll sich eine Ausstellung beschäftigen, die im nächsten Jahr in der Berliner Akademie der Künste stattfinden wird. Kurator ist der deutsche Architekt Matthias Sauerbruch. Urbanität ist für ihn "eine Mischung aus Unfreiheit und Freiheit".

Das Gespräch führte Oliver Kranz | 13.09.2012
    Oliver Kranz: Matthias Sauerbruch, wir haben jetzt gerade eine Diskussion gehört. Richard Sennett hat gesagt, dass informelle Architektur eine Architektur ist, die nicht unbedingt den großen Design-Entwurf meint, sondern eine Architektur, die einfach nur Leute zusammenbringen soll. Wenn Sie das als Architekt hören, was können Sie daraus für Konsequenzen ziehen?

    Matthias Sauerbruch: So hundertprozentig klar ist das nicht geworden in der Diskussion. Soweit ich es verstanden habe, ist mit informeller Architektur nicht unbedingt Architektur ohne Architekten gemeint, sondern eine Architektur, die eine gewisse Offenheit hat - er nennt das ja incomplete architecture -, also auch noch den Benutzer oder den Betrachter oder die nächste Generation einlädt zu ergänzen, zu erweitern, umzunutzen, umzubauen. Also kein geschlossenes System, das eine Komposition ist, die nicht mehr verändert werden darf, sondern eine gewisse Offenheit mit sich bringt.

    Kranz: Wenn man bei dem, was Richard Sennett gerade gesagt hat, nach Sachen sucht, die übertragbar sind, dann ist es vielleicht, dass eine Stadt nicht nur durch ihre Gebäude interessant ist, sondern durch die sozialen Räume, die sie eröffnet. Da habe ich gefunden, dass sich das auch mit Ihrer Biografie verbinden lässt: Sie sind in Süddeutschland aufgewachsen, und als Sie Architekt geworden sind, sind Sie nach Berlin gekommen. Warum haben Sie sich diese Stadt ausgesucht in den späten siebziger Jahren?

    Sauerbruch: Als ich herkam, war ich kurz über 20. Ich habe das als Beispiel genannt, weil Richard Sennett sagte, wir wollen Städte haben, die sicher sind, wo die Wirtschaft funktioniert usw. Und zu dem Zeitpunkt, wo ich mich von Berlin magisch angezogen fühlte, traf nichts davon zu. Berlin war politisch unsicher, war ökonomisch auf einer schlechten Basis, die Stadt war halb zerstört oder es gab immer noch Spuren der Zerstörung. Es war alles so, wie es nicht sein soll, und trotzdem fand ich es faszinierend. Was ich versuchte zu erklären, ist, dass in so einer Stadt, und das ist in Berlin immer noch der Fall, so was entsteht, was ich als Urbanität bezeichne. Das ist eine Mischung aus Unfreiheit und Freiheit. Die Stadt ist durch ihre Architektur, durch ihre Regeln, durch die Kosten, die möglichen Gefahren - der ganze Rhythmus, den das Stadtleben mit sich bringt, hat endlos viele Grenzen und Limitierungen, aber gleichzeitig entsteht eine Atmosphäre, es entsteht ein mentaler Raum, der einem freier vorkommt, als alles andere. Und diese Kombination von physischer Begrenzung und mentaler Befreiung, ist das, was ich als Urbanität bezeichnen würde. Ich glaube, das ist spezifisch für große Städte wie zum Beispiel Berlin.

    Kranz: Sennett sagt auch, dass Städte, die leben, unvollendet sein müssen. Sie haben ein Haus gebaut, in der Nähe vom Checkpoint Charlie kurz vor dem Mauerfall, das schon im Architekturentwurf eine unvollendete Komponente drin hatte. Können Sie mal beschreiben, was Sie da gemacht haben?

    Sauerbruch: Das ist das Wohnhaus direkt am Checkpoint Charlie. Da sollte im Erdgeschoss eine Einrichtung eingebaut werden für die alliierten Streitkräfte. Das war ein Grundstück, das requiriert worden war, und noch ein paar Ruinen drauf. Diese Ruinen wurden von den Soldaten damals verwendet als Umkleideräume und Ruheräume. Das war dann Teil der internationalen Bauausstellung, weil die IBA sich gemeldet hatte bei den Alliierten: "Hättet ihr etwas dagegen, wenn wir da ein Wohnhaus hin bauen?" Da haben die gesagt: "Wir haben da nichts dagegen, solange ihr unsere Einrichtungen bearbeitet." Da haben wir im Erdgeschoss dann eben diese Einrichtungen, Umkleide- und Ruheräume, eingeplant. Wir haben das damals so gemacht: Wir haben Pavillons entworfen, die in einer großen Halle drin stehen, damit man das später herausnehmen kann, dass man das umwandeln könnte, wenn die Mauer einmal fallen sollte. Zu der Zeit hat keiner gedacht, dass die Mauer irgendwann in nächster Zeit verschwinden würde. Das war ein provokativer Gedanke, aber auf ein Gebäude bezogen eine unfertige Form, wo man sagen kann, man kann die eine Nutzung herausnehmen und eine andere herein.

    Was passiert ist, ist tatsächlich, dass dieses Erdgeschoss umgenutzt wurde. Dann ist das Dach darauf sogar noch als Terrasse genutzt worden. Heute ist ein großer McDonald's drin und das ursprüngliche Gebäude ist dadurch verschandelt worden durch diese Nutzung. Ich habe das gezeigt, um zu zeigen, dass informelle Architektur nicht per se schon was Gutes ist, sondern dass natürlich eine gewisse Kontrolle, insbesondere wenn es um den Straßenraum geht, unumgänglich ist.

    Kranz: Sie sagen jetzt verschandelt - über Ästhetik kann man ja immer geteilter Meinung sein. Letztendlich ist das das, was Richard Sennett fordert, wenn er sagt: Das soll leben. Warum soll das nicht möglich sein?

    Sauerbruch: Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen, wenn Sie in das ganze Gelände dort gehen, aber wenn man diese Erinnerung noch hat von diesem Grenzübergang, dann war das schon eine sehr emotionale Situation, die für die Stadt Berlin nicht ganz unwichtig ist. Und wenn Sie sehen, was da heute abgeht, diese ganzen Wurstbuden, die da rumstehen – das ist so eine billige Verramschung eines Ortes, der einfach Besseres verdient hat. Worauf ich hinaus wollte, ist sozusagen letztlich, dass man ohne Balance zwischen Wildwuchs und einer gewissen Zügelung oder Kontrolle, wird man nicht auskommen. Sonst ist alles erlaubt. Sonst können sie alles überall machen. Da entsteht keine Qualität, sondern – wenn es gelingt – Profitmaximierung.

    Kranz: Da kommen sozusagen die gesellschaftlichen Konditionen ins Spiel. Wir leben in einer Zeit, wo der Kapitalismus immer ungezügelter wird. Das ist ja auch das, was an diesem Checkpoint-Charlie-Gebäude passiert ist.

    Sauerbruch: Ja. Man hat das Gefühl, es gehört gar nicht mehr zu Berlin. Es könnte in Disneyland sein oder in einem Vergnügungspark. Sie sehen die Busladungen von Touristen, die dort aussteigen und fotografieren. Dann gibt es diese Schauspieler, die als Soldaten verkleidet dort stehen und ein bisschen Kalten Krieg vorspielen. Dem Besucher läuft die Gänsehaut kurz über den Rücken, dann steigt er in den Bus und fährt wieder weg. Das hat mit der Stadt für meine Begriffe nicht viel zu tun. Das ist eine Entwicklung, die durch Tourismus und die Möglichkeiten des Tourismus befördert wird. Ich meine, da müsste man gegensteuern. Vielleicht über zwei oder drei Generationen wird sich das von selbst korrigieren, aber wenn wir das noch erleben wollen, dass das korrigiert wird, dann muss man gegensteuern.

    Kranz: Und wer soll das machen? Die Politik?

    Sauerbruch: Es gibt natürlich Instrumente, klar. Es gibt einen Senat, einen Senatsbaudirektor, Planungsrecht. Die ganze Stadt ist nach dem Paragraph 34 regiert, das ist so ein Paragraph, der das Planungsrecht definiert, wo auf den Kontext eingegangen werden muss. Wenn das neben dem Brandenburger Tor ist, gelingt das auch.

    Kranz: Die deutsche Bürokratie, die sonst immer gegeißelt wird, hat dann da sozusagen den Vorzug, dass sie den Kapitalismus zügelt?

    Sauerbruch: Das ist genau der Widerspruch, auf den ich hinweisen wollte. Ohne das wird es nicht gehen. Ich würde mir nicht Bürokratie herwünschen. Aber wir haben einen unglaublich differenziert aufgebauten Verwaltungsapparat, und wenn der nicht die Aufgabe hätte und auch nicht die Möglichkeit hat, so eine Situation zu kontrollieren, frage ich mich, wofür haben wir ihn dann?

    Kranz: Wenn die Ökonomisierung fortschreitet - und obwohl wir den Staat haben, der viele Sachen regelt, schreitet sie auch bei uns fort -, wo kann es dann noch Räume geben, wo Gemeinschaft stattfindet?

    Sauerbruch: Wir planen im Augenblick eine Ausstellung über das Verhältnis von Kulturbauten und Stadt. Sie wird "Kultur: Stadt" heißen, im März 2013 an der Akademie. Was kann die Aufgabe von diesen Orten sein? Die Aufgabe dieser Orte ist, das zu definieren, was wir für die positiven Qualitäten unserer Stadt halten, was die Stadt also zusammenhält, wenn ich es platt sage. Das ist auf der einen Seite ganz direkt: Veranstaltungen, wo Menschen zusammenkommen, wo eine Art von sozialer Kohäsion hergestellt wird - da würde Richard Sennett mir wahrscheinlich sofort recht geben –, wo sozialer Austausch stattfindet, aber auch in der anderen Seite, im Setzen von Maßstäben. Ich glaube, dass sich an solchen Stellen Qualitäten manifestieren, denen die Kommerzialisierung letztlich nichts anhaben kann.

    Kranz: Andererseits sind Kulturbauten oft so herausgehoben aus der Stadt. Also da versuchen Architekten, etwas ganz Besonderes zu machen mit Strukturen, die irgendwie der Schwerkraft zu widersprechen scheinen, mit riesigen Glasfronten und so. Das sind Überwältigungsarchitekturbeispiele. Die zielen nicht unbedingt darauf, eine Gemeinschaft herzustellen.

    Sauerbruch: Sie haben recht. Wir haben solche Beispiel auch in der Ausstellung. Es gibt einige, die nur gebaut wurden, um aufzufallen. Um Identität zu stiften, um es positiv auszudrücken. Das Guggenheim Museum in Bilbao ist das bekannteste Beispiel. Man spricht vom Bilbao-Effekt, aber in anderen Städten, weiß man heute, funktioniert das nicht unbedingt. Eine Architektur, die bloß darauf aus ist, aufzufallen und irgendwie eine Art von Höher-schneller-weiter-Mentalität vorzuspielen, ist eher kontraproduktiv.

    Kranz: Also wenn man einen Strich unter das Ganze ziehen will: Sie plädieren für eine Bescheidenheit in der Architektur?

    Sauerbruch: Das ist ein sehr generelles Statement, aber das würde ich unterschreiben, dass Bescheidenheit angesagt ist im Augenblick. Ganz sicher.