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Baltischer Folk
Filigrane Klangwelten aus Estland

Die estnische Folkmusik lebt von ihren innovativen Protagonisten: Maarja Nuut ist die international bekannteste Sängerin und Musikerin. Aber auch das Duo Puuluup, die Band Trad.Attack oder Mari Kalkun werden in den estnischen Popradios gespielt - eine spannende Folkszene.

Von Grit Friedrich | 04.01.2019
    Mari Kalkun und die Musiker von Runorum stehen auf einer rot beleuchten Bühne
    Die estnische Sängerin und Musikerin Mari Kalkun & Runorum beim Rudolstadtfestival 2018 (Oliver Jentsch)
    Musik: "Süüta Mu Lumi"- pUULUUp
    Dieses Lied besingt die unschuldige Schönheit von Schnee. Passend zum Winter. Es ist der Titelsong des aktuellen Albums von Puuluup. Das Duo hat sein Album "Süüta Mu Lumi" mit skurrilen Liedern gefüllt. Die beiden Musiker aus Estland und Finnland, denn Ramo Teder lebt im Nachbarland, der Heimat seiner Frau, begleiten sich auf einem seltenen Instrument, der Talharpa.
    Die Talharpa ist eine archaische, halslose, drei- oder viersaitige Leier. In Estland wurde sie einst nur auf der Insel Vormsi von estnischen Schweden gespielt. Dann verschwand sie fast völlig, erlebte aber ein Revival seit den neunziger Jahren. Die Talharpa- Melodien werden bei Puuluup allerdings elektrisch verstärkt und darüber hinaus genüsslich durch den Looper gejagt.
    "Wir lernten uns bei diesen Talharpa Camps kennen. Die finden jedes Jahr auf der Insel Vormsi statt, du bist da herzlich willkommen, um Talharpa zu lernen. Wir trafen uns dort bei den nächtlichen Sessions und fanden heraus, dass wir auf eine ähnliche Weise mit dem Talharpa Repertoire und dem Instrument verbunden sind. Dort hat alles begonnen.
    Natürlich spielen wir das traditionelle Talharpa-Repertoire, aber wir mögen auch diese spielerische Haltung. Wir spielen einige Punk- und Popsongs, denn wir mögen dieselben estnischen Punkbands von vor über 20 Jahren, an die wir uns erinnern."
    Die beiden Musiker des Duos Puulup spielen in einer Kirche während des Rudolstadtfestivals 2018
    Das estnische Duo Puulup mit der Talharpa (Frank Szafinski)
    Marko Vaisson von Puuluup. Die Band kreiert eine verwegene Musik-Text-Mischung: Punk trifft auf Folk, russische Satire auf Ostseeblues und estnischen Stegreifhumor. Die beiden Musiker tragen ihre Lieder mit ernster Miene vor.
    Manchmal sind ihre Texte nur wenige Zeilen lang, kleine bizarre Geschichten über "Das unangenehme Gefühl, dass der Hund des Nachbarn dich beißen könnte, wenn du den Müll rausbringst." Oder sie singen Lieder über so etwas Sperriges wie Windräder, erzählt Marko Vaisson.
    "Meistens sind die Texte von uns. Da geht es um Alltagsthemen. Da ist der Song "Puhja Tuulik", über ein kleines Windkraftrad. Es ist ein etwas erotischer Song über dieses stromerzeugende Windkraftrad geworden. Und wir singen viel über Biolebensmittel und Klassenkampf. Denn man muss heute wählen, entweder man zahlt die Miete oder man isst Biolebensmittel."
    Musik: "Puhja Tuulik" - pUULUUp
    Schräge Musik und schräge Texte
    Schräg und charmant so klingen die Lieder von Puuluup auf "Süüta Mu Lumi". Ihr unterhaltsam kurzweiliges Debütalbum versammelt 12 Songperlen, das macht Spaß beim Zuhören, hat wilde und sanfte Momente. Erfrischende Musik, entstanden zwischen Estland und Finnland, den Heimatländern der beiden Protagonisten. Hier singen die Männer lebensweise davon, dass jeder neue Tag auch neuen Mut von uns erfordert.
    Musik: Homme on Julgen - pUULUUp
    Puuluup sind ein Duo aus Estland und Finnland und ihre Lieder hätten nicht den typischen Puuluup Charme, wenn die Texte nicht genau so schräg wären, wie die Musik unterhaltsam ist. Es gibt Lieder über Pferde, über einen Hasen, immer wieder über Katzen. Oder über Lämmer, die nicht trinken.
    Und weil die Talharpa, diese besondere Leier, ein Instrument ist, das fast vergessen war in Estland, nennen Marko Vaisson und Ramo Teder ihre Musik "Zombiefolk".
    "Als wir anfingen, haben wir eher Ambient Music gemacht, wir haben die Talharpa elektrisch verstärkt und angefangen zu improvisieren. Wir haben nicht gesungen, nur meditiert über das Instrument und seinen Klang.
    Diese Sessions dauerten 20 Minuten, aber später haben wir uns mehr und mehr dem Singen zugewandt, auch einige Hip Hop Elemente verwendet. Und wenn man das Album hört, kann man sehr unterschiedliche Stimmungen erkennen."
    Das Duo Puuluup war im Sommer2018 beim Rudolstadt-Festival genauso wie eine andere Estin, Maarja Nuut. Das Festival hatte seinen Länderschwerpunkt Estland gewidmet, um 100 Jahre estnische Unabhängigkeit von Sowjetrussland zu feiern.
    Die Musikerin Maarja Nuut hält ein Mikrofon in der Hand,  in das sie singt
    Die estnische Musikerin Maarja Nuut beim Rudolstadtfestival 2018 (Doris Joosten)
    Gerade erst war erst war Maarja Nuut mit zu einer kleinen Tour in Deutschland unterwegs. Trat im Dezember u.a. in München, Köln, Leipzig, Hamburg, Berlin und Wiesbaden auf. Sie ist von den jüngeren Musikerinnen der estnischen Folkszene, diejenige, die am häufigsten für Konzerte nach Deutschland kommt.
    In ihrer Heimat werden ihre Alben in Popradios gespielt, wie die vieler anderer junger Folkbands. Folk ist Mainstream in diesem kleinen baltischen Land. Lange hatte Maarja Nuut estnische Volkspoesie kunstvoll mit ihrem Geigenspiel verbunden, aber seit etwa zwei Jahren arbeitet die junge Estin intensiv mit dem Soundtüftler Ruum (im Alltag heißt er Hendrik Kaljujärv) zusammen.
    "Als ich mit Hendrik begann Musik zu machen, da benutzte er sofort einige und dann habe ich herausgefunden, dass diese alten Synthesizer, und die Art wie sie gestimmt sind oder eben nicht, passte sehr gut zu diesem sehr traditionellen Gesang passte.
    Beim Herumklimpern entstanden die ersten Songs
    Diese Mikrotöne und all diese Klangwelten haben die Musik sehr schön ergänzt. Und als wir dann anfingen unser erstes Album aufzunehmen, hat Hendrik einen alten sowjetischen Syntesizer "'AELITA" zu mir nach Hause gebracht. Nach der Probe habe ich nur ein wenig darauf herumgeklimpert und dabei entstanden die ersten Songs. Und als es dann ins Studio ging, hat unser schottischer Produzent Howie B vorgeschlagen, doch auch Fender Rhodes zu benutzen. So war das."
    Musik: Haned kadunud - Maarja Nuut & Ruum
    Die Estin Maarja Nuut mit einem Volkslied über eine verlorene Gans. Am Ende findet die junge Magd nur noch abgenagte Knochen von dem verloren gegangenen Tier.
    Erst vor etwa fünf Jahren wurde Maarja Nuut international bekannt durch ihre fast schon avantgardistischen Interpretationen estnischer Lieder, Singspiele und Reime, gefunden in Archiven ihrer Heimat.
    Sie unterrichtete einige Jahre Geige und Volkstanz an der Musikhochschule von Viljandi, gab nebenbei Workshops für Kinder und Jugendliche.
    Maarja Nuut hat das vorläufig aufgegeben für ihre zahlreichen Konzerte. Denn heute gehört sie zur international erfolgreichsten Generation estnischer Musiker seit dem sich Estland 1991 aus dem Staatenbund der Sowjetunion gelöst hat.
    Verzaubernd düstere Tongebilde
    Für ihr Album "Muunduja" mit dem Soundtüftler Ruum hat sie mal verzaubernd düstere, mal treibende Tongebilde erschaffen. Und sie war für diese Aufnahmen zum ersten Mal mit einem weiteren Musiker im Studio, auch live eine neue Erfahrung für Maarja Nuut.
    "Sicher ist das ganz anders zu zweit, aber ich würde nicht sagen, dass ich nicht mehr so viel improvisieren kann, weil wir zwei Musiker sind. Man hat sogar mehr Freiheiten, aber ich denke beide Konstellationen haben gute und schlechte Seiten.
    Es ist aber schön etwas nach einigen Jahren zu verändern und jetzt mit jemandem auf der Bühne zu stehen. Meine Texte sind aber immer noch ausschließlich traditionell, denn wir beide finden sie perfekt. Die Kompositionen kommen allerdings zunehmend von mir."
    Titel: "Kurb laulik" - Maarja Nuut & Ruum
    Trancige, repetitive Musik aus Estland. Geflüsterte Lautmalereien wie beim eben verklungenen Trauerlied "Kurb Laulik" sind die Ausnahme auf dem Album "Muunduja".
    Mit dem elektronischen Musiker Ruum hat sich Maarja Nuut auf eine Klangexpedition gewagt, die verschiedene Türen öffnet. In Richtung Neue Musik, Ambient Music oder treibenden Techno.
    "Muunduja" steht für eine Phase des Ausprobierens und die spielerische Suche nach neuen Klanglandschaften. Das Album hat viele verrätselte Momente und ist nicht immer leicht zugänglich. Es ist sperriger als ihre Vorgänger-CD "Une Meeles". Trotz vieler ruhiger Augenblicke. Hier hat sie das Lied "Une Meeles" nochmal in einer neuen Version eingespielt.
    Komm Schlaf, singt die Estin, komm übers Meer, durch den Wald, und bring Träume mit.
    Musik: "Une Meeles" - Maarja Nuut & Ruum
    "Junge Leute spielen diese Musik und darum hören junge Leute ihnen zu. Aber das ist jetzt keine rein traditionelle Musik. Es gab eine große Revivalbewegung.
    Bei nationalen Musikwettbewerben gewannen Folkbands zuletzt die meisten Preise. Auch ich habe einen gewonnen. Aber auch Trad.Attack! und Mari Kalkun, das ist Mainstream geworden und es klingt modern."
    Mari Kalkun singt
    Mari Kalkun gehört zu den wichtigen Vertreterinnen der estnischen Folkszene (Doris Joosten)
    Modern und dabei minimalistisch klingt auch dieses Lied von Mari Kalkun. Vom aktuellen Album "Ilmamõtsan".
    Musik: "Keelega Meelega" - Mari Kalkun
    "Dieses Lied eröffnet mein Album, er heisst "Keelega Meelega": Mit der Zunge und dem Herzen, kann man den Titel übersetzen. Dieses Lied ist mir sehr wichtig, denn es ist sehr persönlich und beschreibt sowas wie den Gang des Lebens. Der Text beginnt auf Estnisch und dann geht er weiter in meinem Heimatdialekt aus Võru."
    Mari Kalkun steht für filigrane Klangwelten aus Estland. Mit ihrem zarten Gesang bewegt sie sich tastend durch südestnische Traditionen aus den Dörfern in der Gegend von Võru.
    Man hört bei ihren Liedern oft nur Stimme und die Kannel, eine griffbrettlosen Kastenzither mit 12 Saiten. Ab und an stoßen noch ein oder zwei Instrumente hinzu. So auch auf ihrer aktuellen Solo- CD "Ilmamõtsan". Ilmamõtsan heißt wörtlich übersetzt "der Wald der Welt". Mari Kalkun besingt den Wald als Zufluchtsstätte, wo man auch Frieden findet.
    Eine der wichtigsten Folksängerinnen Estlands
    "Ich komme aus dem südlichen Teil von Estland, der sehr stark bewaldet ist und dort habe ich auch meine Kindheit verbracht. Ich habe die Vögel und Sümpfe beobachtet, habe mit Blättern und Steinen gespielt.
    Ich denke, so etwas schafft eine sehr wichtige Grundlage für ein Kind, eine starke Verbindung zur Natur. Später fand ich heraus, dass die Menschen dieser Region eine sehr spezielle Verbindung zum Wald haben, ja eine Freundschaft zum Wald pflegen."
    Musik: "City Lament" - Mari Kalkun
    Introvertiert klingen die meisten Lieder von Mari Kalkun, häufig haben sie etwas von Beschwörungen. Man entdeckt beim mehrmaligen Hören ihres Albums "Ilmamõtsan" immer tiefere Schichten.
    Die Überraschung lauert dann im letzten Song, hier hört man nicht nur Mari Kalkuns kleine Tochter im Hintergrund etwas erzählen, am Anfang des Liedes, sondern ein paar festlich erhabene Bläserklänge. Schöner hätte dieses minimalistische und trotzdem komplexe Album aus Estland nicht enden können.
    Musik: "Linda, Linda" - Mari Kalkun
    Mari Kalkun ist eine der wichtigsten Sängerinnen aus Estlands lebendiger Folkszene. Sie tourt wie Maarja Nuut um die Welt und hat eine Reihe wichtiger Auszeichnungen erhalten in ihrer Heimat. Viele Lieder widmete Mari Kalkun engen Freunden oder Familienmitgliedern. Zu andere ließ sie sich inspirieren von lokalen Geschichten aus der südestnischen Region Võru.
    Manchmal erinnert ihr beschwörender Sprechgesang an die uralte Tradition der Runenlieder. Das sind mündlich überlieferte Lieder, die von der Erstehung der Welt und vom Alltag der estnischen Bauern erzählen. In Liedern konservierte Geschichte.
    Doch Mari Kalkun hat auch ein erfolgreiches Bandprojekt mit drei Musikern aus Finnland. Das gemeinsame Album TII ILO sei "ein musikalisches Juwel", schwärmte das Magazin Global Music, als es erschien und ich kann dem nur zustimmen.
    "Für die Band Runorun ist Improvisation eine Art der Kommunikation. In den Konzerten springt der Funke über, wenn wir beginnen, zu improvisieren. Es ist, als würde man eine eigene Welt erschaffen und in diesen Momenten fühlst du einfach, dass du eine Freiheit erreichst, die dich fast fliegen lässt."
    "Unetu", dieses Lied von Mari Kalkun und ihrer Band Runorun ist ein Lied für all die Schlaflosen dieser Welt.
    Musik: "Unetu /Sleepless" - Mari Kalkun & Runorun