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Barbara Lambauer: ''Otto Abetz et les Français ou l'envers de la collaboration''

Gegen die Abtransportierung von 40.000 Juden aus Frankreich zum Arbeitseinsatz in dem Lager Auschwitz bestehen seitens der Botschaft grundsätzlich keine Bedenken. Bei der Durchführung dieser Maßnahme sollten jedoch folgende Erwägungen in Betracht gezogen werden. Die Botschaft hat bei allen gegen die Juden ergriffenen Maßnahmen ständig den Standpunkt vertreten, dass diese in einer Form durchgeführt werden sollten, die das in der letzten Zeit gewachsene antisemitische Gefühl ständig weiter erhöht.

Lothar Baier | 08.04.2002
    Das telegraphierte Otto Abetz, Hitlers Botschafter in Paris, am 2. Juli 1942 an das Auswärtige Amt. Die Franzosen, so Abetz weiter, sollten an die Deportationen dadurch gewöhnt werden, dass erst die zugewanderten fremdländischen Juden in die Todesfabriken verschickt werden, und dann erst sollten die jüdischen Landsleute folgen. Der Mann verstand was von Taktik, nicht nur, wenn es darum ging, antisemitische Gefühle zu produzieren. Otto Abetz konnte sich das Image des "kultivierten Nazis" zulegen, obwohl er die nationalsozialistische Politik in Frankreich konsequent exekutierte. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die Abetz-Monographie, die Barbara Landauer bei Fayard in Paris vorgelegt hat.

    Journalisten, die sich wahrscheinlich besonders witzig vorkamen, als sie die Liste der von Innenminister Otto Schily durchgesetzten Antiterrormaßnahmen "Otto-Katalog" nannten, hatten gewiss niemals von jener "Otto-Liste" gehört, die bei den französischen Nachbarn in trauriger Erinnerung geblieben ist. "Liste Otto" hieß im nazibesetzten Frankreich das Verzeichnis der Bücher, die nach dem Willen des deutschen Botschafters und Zensurchefs Otto Abetz aus Buchhandel und Verlagsprogrammen zu verschwinden hatten.

    Für die mit Hitlers Besatzungspolitik befasste deutsche Geschichtsschreibung gilt Abetz als eher kuriose Randfigur: ein frankophiler Nazi, der sich mit Vorliebe um die Besetzung der Redakteursposten literarischer Zeitschriften mit deutschfreundlichen Leuten kümmerte. Bald nach seinem Amtsantritt sorgte Abetz in der Tat dafür, dass eine alte Vorkriegsbekanntschaft, der kultivierte Faschist Drieu la Rochelle, die Leitung der angesehenen Zeitschrift "Nouvelle Revue Française" übernahm. Den politischen Aktionsradius des Botschafters stufte der Historiker Eberhard Jäckel in seiner als Standardwerk betrachteten Arbeit "Frankreich in Hitlers Europa" als recht gering ein, verglichen mit der Machtfülle des Militärbefehlshabers und der Pariser Gestapozentrale.

    Der Zeithistoriker Roland Ray hat diese relativ freundliche Lesart in seiner 2000 erschienenen Arbeit über Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik einer Revision unterzogen. Zu einem noch strengeren Urteil über Abetz gelangt die in Frankreich arbeitende österreichische Historikerin Barbara Lambauer, die unter dem Titel "Otto Abetz et les Français ou l'envers de la Collaboration" - Otto Abetz und die Franzosen oder die Rückseite der Kollaboration - im Verlag Fayard eine fast 900 Seiten starke Monographie vorgelegt hat. Während Rays Arbeit mit dem Jahr 1942 endet, reicht Lambauers Untersuchung allein chronologisch weit darüber hinaus.

    Zum Vorschein gebracht wird die atemberaubend rasante Verwandlung eines aus der deutschen Jugendbewegung hervorgegangenen, scheinbar harmlosen Frankreichenthusiasten in einen äußerst gerissenen und skrupellosen nationalsozialistischen Kleinherrscher. Kaum war Abetz nach der Kapitulation Frankreichs Ende Juni 1940 in Paris eingetroffen, begann der ehemalige Karlsruher Zeichenlehrer, der die Sprache der Kunst vor allem als Wertskala las, in französischen Museen und Privatsammlungen Raubzüge zu organisieren. Wenige Wochen später traf ein erster Transport mit wertvollsten Gobelins in Berlin ein. Danach wurde der Diebstahl von 1500 im Schloss von Chambord an der Loire ausgelagerten Kunstwerken vorbereitet. Verhindert wurde der Raubzug durch das Eingreifen der Militärs, die für jede einzelne Entwendung einen Führerbefehl verlangten. So musste Abetz sich vorerst damit begnügen, in Paris einzelne Immobilien auszurauben und seine Botschaft mit dem Diebesgut zu schmücken. Kein Zufall, dass der Blick des Botschafters zuerst auf das Palais Rothschild in der rue Saint-Honoré fiel, das Gebäude der heutigen amerikanischen Botschaft: Denn Barbara Lambauer kann in ihrer Arbeit belegen, dass der Nazi Abetz von seinem Amtsantritt an in die antijüdischen Maßnahmen des Besatzungsregimes verwickelt war. Bei seiner Ernennung zum Botschafter in Berlin war er von Hitler persönlich in dieser Hinsicht "gebrieft" worden.

    Den Interessen Nazideutschlands in Frankreich diente Otto Abetz vor allem dadurch, dass er auf kollaborationsbereite, aber nicht unbedingt nazifreundliche französische Politiker durch sein gewandtes Auftreten Einfluss gewann und unter deren Mitwirkung den Gang der Geschäfte lenkte. Jetzt zahlten sich die zahlreichen Kontakte zu Franzosen aus, die der jugendbewegte badische Beamtensohn seit Beginn der dreißiger Jahre durch den von ihm begründeten deutsch-französischen Sohlberg-Kreis gewonnen hatte. Den Schriftsteller Drieu la Rochelle hatte er auf diese Weise kennengelernt, aber auch eine Reihe von Publizisten, Gewerkschaftsführern und Unternehmern. Zu Abetz' Bekanntschaften zählte etwa der Herausgeber der verständigungsgeneigten Zeitschrift "Notre Temps", Jean Luchaire, dessen Sekretärin Suzanne de Bruycker Frau Abetz wurde.

    Bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war der parteilose Abetz mit dem Sekthändler Joachim von Ribbentrop in Kontakt gekommen, der seit 1932 Mitglied der NSDAP war und 1933 seiner Auslandserfahrungen wegen zum außenpolitischen Berater Hitlers aufstieg. Abetz ließ sich von Ribbentrop für die Nazipartei werben, konnte aber wegen der Aufnahmesperre erst 1937 Parteimitglied werden. Der Sache der Nazis zu dienen war er jedoch gleich bereit. Von 1934 an hatte er auch reichlich Gelegenheit dazu, da der von Hitler mit dem Aufbau einer nationalsozialistischen Paralleldiplomatie beauftragte Ribbentrop Abetz als Frankreichexperten einstellte. Von da an reiste Abetz nicht mehr als rühriger frankophiler Privatier in Frankreich herum, sondern als besoldeter Einflussagent im Dienst Nazideutschlands. Im Lauf der Jahre erweckten die Umtriebe des agilen Deutschen den Argwohn französischer Polizeidienste: Kurz vor Kriegsbeginn wurde Abetz schließlich zur persona non grata erklärt und aus Frankreich ausgewiesen. Doch bereits ein Jahr später, nach der Kapitulation Frankreichs, konnte der Vertraute des 1938 zum Außenminister ernannten Ribbentrop im Triumphzug wieder nach Paris zurückkehren und nun als Statthalter einer siegreichen Besatzungsmacht im Botschaftsanwesen der Pariser Rue de Lille Hof halten.

    Die außerordentlich informative und materialreiche Abetz-Biographie Barbara Lambauers zeichnet detailliert die vielen einzelnen Schachzüge nach, die der ehemalige Zeichenlehrer mit staunenswerter Professionalität einfädelte, um das zwischen der Naziführung und dem Vichy-Regime laufende Machtspiel im Sinn der Nazis für sich zu entscheiden. Dank seiner Landeskenntnis handelte der für die deutsche Propaganda in Frankreich verantwortliche Abetz wesentlich effektiver, als ein Kommisskopf aus der Militärverwaltung oder dumpfer Nazi hätte handeln können.

    Mit der von Abetz selbst und seinen Getreuen später verbreiteten Legende, allein dem Reich loyal gedient und von Nazi-Scheußlichkeiten wie der Deportation und Ermordung der Juden nichts gewusst zu haben, macht Barbara Lambauers politische Biographie ein für allemal Schluss. Abetz war in die "Endlösung" nicht nur eingeweiht, kann die Historikerin nachweisen, er wirkte auch, was die Juden Frankreichs betraf, aktiv an ihrer Organisation mit. Als 1942 die Vorbereitungen zu der ersten großen Massendeportation von Juden anliefen, die mit der Erfassung der Juden begannen, war es Botschafter Abetz, der vom Militärbefehlshaber verlangte, in der besetzten Zone das Tragen des gelben Sterns zu verordnen, und der Eichmanns Frankreichbeauftragten Dannecker drängte, möglichst schnell die erforderlichen 400.000 Abzeichen zu besorgen. Bei einem Empfang Heydrichs in Abetz' Residenz im Mai des Jahres erfuhr der Botschafter weitere Details der geplanten Operation. Einen Monat vor den Massendeportationen vom 11. und 12. Juli, deren Opfer großenteils in Auschwitz ermordet wurden, sprach sich Abetz mit der federführenden Pariser SS-Führung ab. Himmler verlieh ihm seiner treuen Dienste wegen später einen hohen SS-Offiziersgrad.

    Mit dem Herannahen der alliierten Streitkräfte im Sommer 1944 nahte auch das politische Ende des Nazi-Satrapen Otto Abetz. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich im Tross Marschall Pétains mit nach Sigmaringen abzusetzen, wo er als Botschafter Deutschlands überflüssig war und entlassen wurde. Doch der gerissene Abetz wäre nicht Abetz gewesen, wenn er nicht beizeiten dafür gesorgt hätte, dass Bargeld, Goldmünzen, gestohlene Kunstwerke und Wertgegenstände außer Landes und in die Abetz-Villa bei Baden-Baden geschafft wurden. Nach der französischen Besetzung der Region gelang es Abetz, sich einige Zeit zu verstecken, doch im Oktober 1945 wurde er von der französischen Polizei in einer Schwarzwaldklinik entdeckt. Wieder Rückkehr nach Paris, doch diesmal in Handschellen.

    Im Juli 1949 wurde vor dem Pariser Militärgericht der Prozess gegen Abetz wegen Kriegsverbrechen und anderer schwerer Delikte eröffnet. Das Plädoyer des brillanten Strafverteidigers René Floriot, das Abetz das Verdienst zuschrieb, die "Polonisierung" Frankreichs verhindert zu haben, verfehlte seine Wirkung nicht, denn Abetz wurde nicht wie erwartet zum Tod, sondern zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Bereits nach fünf Jahren konnte ein auf Druck seiner Freunde beiderseits des Rheins begnadigter Abetz das Gefängnis verlassen. Vier Jahre danach, 1958, kamen er und seine Frau bei einem nie restlos aufgeklärten Autounfall ums Leben: Bei dem kurz zuvor als Geschenk von einem Franzosen überreichten VW-Käfer hatte plötzlich die Lenkung versagt.

    Der politische Lebenslauf, den Barbara Lambauer minutiös rekonstruiert hat, ist der eines jener deutschen Nationalsozialisten, hinter deren äußerer Liberalität und Jovialität sich kalkulierende Virtuosen der Technokratie der Macht verbargen, jener Technokratie, die das Naziregime so furchtbar gemacht hat. Der Autorin ist absolut zuzustimmen, wenn sie ihre Abetz-Forschung mit dem Satz resümiert: "Otto Abetz zählt zu den dem Nationalsozialismus verpflichteten Leuten, die aufgrund ihrer scheinbaren Mäßigung in ihrem Handeln weit effizienter sind als die brutalen Nazis." Für solche Effizienz, Hauptantriebskraft der Nazimaschine, hat es hinterher allerdings kein angemessenes Strafmaß gegeben.

    Eine Rezension von Lothar Baier. Barbara Lambauers Abetz-Biographie ist erschienen im Verlag Fayard, Paris. Titel: Otto Abetz et les Français ou l'envers de la collaboration. 895 Seiten, EUR 30. Bleibt zu hoffen, dass ein hiesiger Verlag die deutsche Übersetzung herausbringt. Wer die französische Sprache nicht beherrscht, der sei auf die eingangs der Rezension von Lothar Baier erwähnte Arbeit von Roland Ray verwiesen. Überschrieben ist dieses Werk: "Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik". Es ist vor zwei Jahren im Münchener Oldenbourg Verlag erschienen, umfasst 419 Seiten und kostet EUR 64,80.