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Barbara Streidl: "Langeweile"
Der graue Schleier des Stillstandes

"Unsere Natur ist Bewegung, völlige Ruhe ist der Tod", wusste schon Blaise Pascal. Im Gespräch bietet Barbara Streidl etliche Möglichkeiten zur Ehrenrettung eines antikapitalistischen Zustandes.

Von Jan Drees | 09.08.2018
    Die Autorin Barbara Streidl und ihre Auseinadersetzung mit der "Langeweile"
    Die Autorin Barbara Streidl und ihre Auseinadersetzung mit der "Langeweile" (Cover: Reclam Verlag / Autorenportrait ©Stephanie Füssenich )
    Zum Vokabular des Mittelhochdeutschen zählt die Langeweile noch nicht. Im Wörterbuch von Matthias Lexer findet man das Adjektiv "oede", was aber zumeist mit "leer", "unbewohnt", "unbebaut" zu übersetzen ist. Oder das Nomen "urdruz", das "Überdruss", "Ekel", "Abscheu" meint.
    Langeweile wurde also unter Umständen empfunden - aber wenn genannt, dann nur umschrieben. Was also ist die Langeweile und in welchem Austauschverhältnis steht die Langeweile zur Literatur? Darüber spricht Barbara Streidl aus München, die mit ihrem Reclam-Band "Langeweile" eine kulturgeschichtliche Betrachtung dieses höchst interessanten, also gar nicht langweiligen Phänomens veröffentlicht hat.
    "Mit existenzieller Langeweile haben sich Friedrich Nietzsche, Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer im 18. Und 19. Jahrhundert auseinandergesetzt. Ähnlich wie Blaise Pascal vor ihm ging Kant (1724-1804) davon aus, dass Menschen sich stets getrieben fühlen, ja dass das Leben selbst nur durch Taten erspürt werden kann. ‚Der Mensch fühlt sein Leben durch Handlungen und nicht durch Genuss. Je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir unseres Lebens bewusst."
    Veränderter Blick auf ein Phänomen
    Im 19. Jahrhundert wurden die Himmel dann leergeräumt, der Idealismus setzte den Menschen an die Stelle Gottes, man dachte mehr und mehr über jenes Phänomen nach, das heutzutage als Problem gesehen wird: über die Individualität und die daran hängende Subjektivität. Langeweile wird teilweise zu einem Wert an sich. Friedrich Nietzsche schrieb: "Wer den Mut nicht hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften."
    Sören Kierkegaard dachte 1943 über die Langeweile nach und notierte: "Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum ward Eva erschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt, wuchs an Größe in genauer Entsprechung zum Wachstum der Menge des Volks. Adam langweilte sich allein, alsdann langweilten Adam und Eva sich im Verein, alsdann langweilten Adam und Eva und Kain und Abel sich im Familienkreis (en famille), alsdann nahm die Menge des Volks in der Welt zu und langweilte sich en masse."
    In der Literatur ist Thomas Manns "Der Zauberberg" ein Paradigmenwechsel. Er gehört zur Gattung des modernen »Zeitromans«, ebenso wie James Joyces Ulysses oder Virginia Woolfes Mrs. Dalloway. Diese Geschichten brachen mit der Tradition des im 19. Jahrhundert weit verbreiteten »Entwicklungsromans«. Es gibt demnach mannigfaltige Möglichkeiten, dem Sein, das der Zeit unterworfen ist, etwas Schönes zu schenken, indem der ihn der "langen Weile" überlässt – und beispielsweise ein gutes Stück Literatur in die Hand zu geben.
    Barbara Streidl: "Langeweile"
    Reclam, Stuttgart. 100 Seiten, 10 Euro