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Beat Stauffer
„Maghreb, Migration und Mittelmeer“

Die Maghrebstaaten bilden eine Art Schutzwall für die südlichen Grenzen Europas. Deshalb muss die Europäische Union mit ihnen eng zusammenarbeiten, um die irreguläre Migration einzudämmen, davon ist der Journalist und Nordafrika-Kenner Beat Stauffer überzeugt. Abschottung aber ist für ihn trotzdem keine Lösung.

Von Susanne El Khafif | 06.01.2020
Buchcover; im Hintergrund: Flüchtlinge warten in einem überfüllten Schlauchboot auf Rettung
Beat Stauffer ist der Meinung, Europa müsse die irreguläre Migration so weit wie möglich eindämmen (Buchcover NZZ Libro/ Hintergrund AFP/Abdullah ELGAMOUDI)
Der Schweizer Journalist Beat Stauffer dürfte sich mit seinem jüngsten Buch nicht nur Freunde machen - in Zeiten, in denen die Debatte um politisches Asyl und Migration in Deutschland und ganz Europa derart aufgeheizt, derart polarisiert ist.
"Der Schreibende vertritt mit Nachdruck die These, dass es unumgänglich ist, die irreguläre Migration so weit wie möglich zu stoppen beziehungsweise einzudämmen."
Die Befürworter offener Grenzen dürfte Stauffer mit dieser These brüskieren. Doch brüskieren dürfte er auch die anderen, die, die alles Fremde draußen halten wollen. Denn Beat Stauffer ist zugleich davon überzeugt, dass Abschottung allein nicht reiche; dass Europa investieren müsse: aber-Milliarden in Afrika, besonders in den Aufbau des Maghreb, der für viele Migranten Sprungbrett ist nach Europa:
"Europa muss den Maghrebstaaten auch etwas anbieten. Das wird kosten; sei es direkt in Form finanzieller Hilfen für diese Staaten, sei es indirekt in Form großzügiger Gewährung von Visa, Stipendien, Arbeitsplätzen oder Kontingenten für legale Arbeitsmigranten."
Migrationsdruck wächst weiter
Beat Stauffer provoziert, nicht um der Provokation willen, sondern weil er ernsthaft nach Lösungen sucht, für ein Problem, das er als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika ausmacht. Bereits heute, so der Autor, sei der Migrationsdruck groß, doch er werde ungleich größer. Bis zum Jahr 2050 werde sich die Bevölkerung Afrikas voraussichtlich verdoppelt haben, auf 2,5 Milliarden Menschen. Europa dürfe dem Migrationsdruck nicht nachgeben, müsse unerlaubte Zuwanderung dringend eindämmen. Sonst, schreibt Stauffer, könnten schwierige Zeiten bevorstehen:
"Die Szenarien reichen von einer Zerstörung der europäischen Sozialversicherungssysteme über heftige Reaktionen der lokalen Bevölkerung, einem massiven politischen Rechtsrutsch, wie er bereits stattfindet, bis hin zu chaotischen Verhältnissen und einer Überforderung der Staaten Europas."
Soweit die Kernaussagen von Beat Stauffer – verkürzt und aus ihrem Kontext genommen. Auf den gut 300 Seiten des Buches liest es sich anders: Differenziert, ausgewogen und durchaus überzeugend.
In seinem Buch thematisiert der Autor die irreguläre Migration, konzentriert sich dabei auf den Maghreb. Er analysiert die Missstände in diesen Ländern, beschreibt das soziale Gefälle, die Korruption, die Mafia, das Schlepperwesen, die Schwäche staatlicher Institutionen. Er stellt junge Männer vor, die ihre Heimat verlassen wollen, um jeden Preis, selbst um den Preis ihres Lebens. Er benennt ihre Motive: Armut, Wut und Frustration, erzählt von ihrer Flucht, ihr Stranden in einem Europa, das sie auf den Plantagen Spaniens zwar ausbeuten aber nicht willkommen heißen will.
Der Autor beschreibt die Maßnahmen, die Europa zur Abwehr irregulärer Migranten plant beziehungsweise bereits ergreift: Frontex etwa, die umstrittenen "Aufnahmezentren" in Nordafrika oder der neue Wall aus Grenzschutzanlagen, den Europa - analog dem Limes im Römischen Reich – in Nordafrika realisieren will, indem es die Maghrebstaaten davon überzeugt, zu einer Art vorgelagertem "Schutzwall" für Europa zu werden.
Beat Stauffer belässt es nicht bei der Darstellung, er hinterfragt und bezieht Stellung: So ist er für einen Marshallplan zum Aufbau Nordafrikas, er ist für echte Partnerschaften und deutlich mehr legale Migration. Doch er ist gegen unerlaubte Zuwanderung, will klar trennen zwischen Asylsuchenden, Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten, will eine Überarbeitung der Genfer Flüchtlingskonvention und eine Ausweisung all derer, die abgelehnt wurden. Jede andere Praxis, so der Autor, gefährde das politische Asyl.
"Staaten, die Menschen Schutz gewähren, müssen auch den Mut und die Durchsetzungskraft haben, Migranten eine Aufnahme zu verweigern und die entsprechenden Ausweisungsbescheide durchzusetzen, auch wenn dies unangenehm und für die Betroffenen mit Härten verbunden ist. Vereinfacht lässt sich sagen: ohne Abschiebungen kein glaubwürdiges und funktionierendes Asylwesen."
Einblicke in andere Lebenswelten
Der Autor überzeugt auch formal und methodisch. So skizziert er die öffentliche Debatte zum Thema und fasst den aktuellen Stand der Forschung zusammen. Und er fügt die Erkenntnisse eigener Recherche hinzu. Erkenntnisse, die er bei seinen Reisen und Aufenthalten in Nordafrika gewinnen konnte, im Buch klar ausgewiesen als Reportage, Biographie und Interview. Dennoch entstehen keine Brüche, fügen sich die Bausteine harmonisch zusammen und verhelfen dabei zu Einblicken in andere Lebenswelten. Etwa von Cissoko, einem jungen Mann aus dem Senegal, der den Autor mitnimmt, in sein enges, stickiges Versteck irgendwo in Tanger. Oder von Marouane aus Tunis, der es schafft, sich in Belgien eine Existenz aufzubauen. Dabei gelingt dem Autor ein schwieriger Spagat: Er ist seinem Gegenüber zugewandt - spürbar wird auch sein Hadern mit dem Leid des anderen - dennoch ergreift er nicht Partei, überlässt es den Lesern, sich ein Urteil zu bilden.
"Wenn es gelingen sollte, auf diese Weise einen anderen Blick auf die irreguläre Migration zu vermitteln und zu einer pragmatischen Lösung dieses Problems beizutragen, so hätte dieses Buch seinen Zweck erfüllt", so der Autor in seinem Schlusswort.
Beat Stauffer löst seinen Anspruch ein. Obwohl an mancher Stelle Wiederholungen gewisse Längen produzieren, ist sein Buch überaus informativ, anschaulich und meinungsstark, ein konstruktiver Beitrag also zur aktuellen Debatte, auch und gerade weil es zum Widerspruch reizt. Und letztlich überzeugt, was der Autor schreibt: Fragen dieser Größenordnung – Schicksalsfragen eben – lassen sich nicht durch Wegschauen oder Wegsperren lösen. Sie verdienen Antworten, die pragmatisch sind und möglichst vielen gerecht werden.
Beat Stauffer: "Maghreb, Migration und Mittelmeer. Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika",
NZZ Libro, 320 Seiten, 38 Euro.