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Bedächtig konservativ

Henning Ritter durchschreitet mit seinen Notaten viele Gebiete. Es ist eine Hommage an Gelesenes und ein Sammelsurium des durch unaufhörliche Lektüre angeregten Denkens. Ritter war, bis zu seinem altersbedingten Rückzug, verantwortlicher Redakteur der Seite "Geisteswissenschaften" bei der FAZ.

Von Florian Felix Weyh | 16.01.2011
    Sich einem Buch äußerlich zu nähern, es in der Hand zu wiegen, die Seiten umzublättern und ihrem Klang zu lauschen, ist eine eher ungewöhnliche Vorgehensweise für den professionellen Buchbeschauer. Sucht er nicht die Auseinandersetzung mit dem Text? Dennoch empfiehlt sich manchmal die äußere Betrachtung vor der inneren, dann nämlich, wenn das Buch den Beschauer dezent vor dem leichtfertigen Umgang mit seiner schwebenden Substanz warnt:

    "Man liest einen Autor am oberflächlichsten, wenn man über ihn schreiben möchte. Denn man hält dann nur Ausschau nach dem, was einem für diesen Zweck dienen kann."

    Botschaft angekommen – beginnen wir also lieber mit der Physis: Das Buch ist schwer, obgleich nicht sonderlich dick. Und es klingt beim Umblättern nach Ewigkeit. Beides kommt vom Papier, zwar nicht mikrometerfeines biblisches, aber doch jenes Volumen sparende Dünndruckpapier, das man gewöhnlich für Werkausgaben schöpft. Zeitgenössische, schnelllebige Literatur findet selten Niederschlag auf solchem Trägerstoff; dafür ist er zu teuer und sendete auch noch falsche Signale: Achtung, Klassiker! Bevor das Auge überhaupt etwas erfasst hat, melden schon die Finger ein Gefühl von Erhabenheit, literarischem Kanon, Wertbeständigkeit. In diesem Sinne ist das Buch – rein äußerlich – aus der Zeit gefallen, worauf auch seine Lesebändchen hindeuten. Es besitzt derer zwei, ein bordeauxrotes und ein schiefergraues. Etwas ratlos fragt sich der Buchbeschauer, wozu man zwei Lesebändchen braucht, da man die Lektüre doch immer nur an einer Stelle unterbrechen kann? Möglicherweise um auf Seite 137 einen Merkfaden einzulegen.

    "Ganz beiläufig und aus der Anschauung heraus findet Renard das berühmte Bild Heideggers für die Wahrheit: Denken heißt in einem Wald Lichtungen suchen."

    Bis man, vielleicht Wochen später, Seite 251 erreicht, wo sich der Bogen schließt und man dann erleichtert zum roten Lesebändchen zurückzukehren mag:

    "Das zutreffende Bild für die Wahrheit ist nicht die Lichtung, sondern die Rodung."

    Aber es gibt gar keine Bögen in den "Notizheften" von Henning Ritter, und zur Markierung bemerkenswerter Stellen bedürfte das Buch einer ganzen Lesebändchenmähne, die im Gebrauch rasch verfilzen würde. Wir haben es hier mit der Gattung der Notate zu tun – wichtig: nicht des Tagebuchs! –, der geistigen Ideensammlung, die mal aufs lichtenbergsche Sudelbuchhafte hinausläuft, mal auf aphoristische Zuspitzung; mal den Maximen der französischen Moralisten Reverenz erweist, mal längere Rezensionsausflüge zu Büchern unternimmt, die nicht mehr rezensiert werden, weil sie hundert, gar zweihundert Jahre alt sind. Es ist eine Hommage an Gelesenes und ein Sammelsurium des durch unaufhörliche Lektüre angeregten Denkens. Wer viel liest und nicht den Drang verspürt, etwas vom in ihm Angeregten und Ausgelösten festzuhalten, liest ganz offensichtlich falsch oder das Falsche. Im Sinne fehlender Systembildung sind diese Notate unfertige Fragmente, dafür aber oft auf den Punkt gebracht. Und das ist ja viel angenehmer als der deutsche Hang, auf jedem Kleingedanken eine ganze Kathederphilosophie zu errichten.

    "Philosophische Begabung ist so selten wie musikalische. Der Unterschied ist, dass philosophisches Mittelmaß nicht so leicht erkannt wird wie musikalisches, da die meisten Menschen die Philosophie ohnehin für Verstiegenheit halten und deswegen für Qualitätsunterschiede keinen Sinn haben. Da sie gute von schlechter Philosophie nicht unterscheiden können, bleibt die echte philosophische Begabung unerkannt."

    Auch hier könnte das bordeauxrote Lesebändchen wieder einen Seitensprung markieren, der Entferntes zusammenwachsen lässt:

    "In der Philosophie fällt es schwer, die, die denken, und die, die nicht denken, voneinander zu unterscheiden, denn sie sprechen beide dieselbe Sprache."

    Henning Ritter, bis zu seinem altersbedingten Rückzug verantwortlicher Redakteur der Seite "Geisteswissenschaften" bei der FAZ (gleichsam ein Ressort für imaginäre Lesebändchen), hat natürlich eine Vorstellung davon, wer als Philosoph lesbar und wer es nicht ist. Nietzsche kommt in seinen Aufzeichnungen häufig vor, die französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts (wie Montaigne, Chamfort, Rochefoucauld, Montesquieu, Galiani), dann Kierkegaard und Schopenhauer. Selten jemand aus dem 20. Jahrhundert, das die Ausdruckslosigkeit für die gesteigerte Form des Ausdrucks hielt – mit Ausnahmen wie Ortega y Gasset und Hans Blumenberg:

    "Von Boswell habe ich gelernt, dass man gegenüber seinen Helden, wie er es gegenüber Doktor Johnson tat, nie den Versuch machen darf, zu glänzen oder auch nur gut auszusehen. Mein Doktor Johnson war Hans Blumenberg. Also habe ich meine Briefe an ihn immer flüchtig und nachlässig geschrieben und dafür immer höchst konzentrierte Antworten erhalten, die die von mir versäumte Arbeit mit erledigten. Ich habe mich alles zu sagen oder zu fragen getraut, ohne Sorge, ungebildet zu wirken. Takt gegenüber den Großen ist es, dass man mit ihnen nicht konkurriert."

    Hans Blumenberg als Leitgröße ist kein Zufall, denn wie jeder Mann ist Henning Ritter Sohn eines Vaters. In seinem Fall des Philosophen Joachim Ritter, dessen "Münstersche Schule" nach 1945 all jene beherbergte, die nicht im linksliberalen Mainstream mitschwimmen wollten, sondern ihre Gesellschaftsskepsis konservativ ausdrückten: Hermann Lübbe, Odo Marquard, Robert Spaemann etwa. Blumenberg übernahm den Lehrstuhl Ritters 1970, ging dann – durchaus kein Ritter-Schüler – seinen eigenen Weg und huldigte dem Zeitgeist ebenso wenig wie sein Vorgänger. Henning Ritters Notate haben von beiden etwas, von Hans Blumenberg die "Bellesophistik" – schönes Denken, wie es einst Ludwig Marcuse taufte –, und vom Vater eine Grundhaltung, die das bürgerliche Leben als das richtige ansah und sich nicht mit dem um die Ecke gedachten Dilemma des wahren Lebens im falschen herumschlug. Nach links gewandte Zeitgenossen sagen gerne, Konservativismus sei stumpf - hier ist er spitz:

    "Ob man eines Tages bemerken wird, dass das Paradies, das den Menschen zugestanden wird, in den 50er-Jahren in Amerika und Europa verwirklicht war? Es lag am Swimmingpool."

    Das ließe sich zur Not noch als rückwärtsgewandte Provokation vom Tisch wischen: Wer besaß schon einen Swimmingpool in den 50ern? Eben, würde Ritter sagen, es darf ja auch nicht jeder ins Paradies! Noch kräftiger piekst die Nadel des Widerspruchs allerdings, wenn es um die geistigen Moden der 68er geht:

    "Will man das Verhältnis meiner Generation zu Walter Benjamin beurteilen, so muss man in die Rechnung aufnehmen, wie viele mit Arbeiten über ihn, dem die Habilitation verweigert wurde, zu akademischen Titeln gelangten, gar habilitierten mit einer Arbeit über das Trauerspielbuch, das Benjamins Auszug aus der akademischen Welt besiegelte. Darin liegt zweifellos ein Mangel an Takt gegenüber dem verehrten Autor, obwohl die Betreffenden sich wohl eher einbildeten, sie würden ihn an der akademischen Institution rächen."

    Man liest's mit betrübter Zustimmung und findet im nächsten, vermutlich viel später geschriebenen Notat eine Anknüpfung höherer Ordnung. Denn Henning Ritters Generationsgenossen (mit denen ihn nicht viel verbindet) hatten nicht nur kein Problem damit, sich taktlos bei den Opfern der Geschichte zu bedienen, um darauf ihre Karrieren zu errichten, sondern vor allen Dingen ein Problem damit, das Ganze auch noch moralisch zu überhöhen.

    "Montesquieu hat vor Moralisierung der Politik gewarnt: "Es ist nutzlos, der Staatskunst etwa vorzuwerfen, dass sie in Widerspruch zur Moral, Vernunft und Gerechtigkeit steht. Solche Predigten rufen allenfalls allgemeines Kopfnicken hervor, ändern aber niemanden." Was die Moral untauglich macht für die Politik ist ihre allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Sie greift einer Einheit vor, welche die Politik nur anstreben kann."

    Will man das nicht weise nennen, darf man es zumindest als abgeklärt bezeichnen – ein Signum des bedächtigen Konservativen, wogegen fürs "Progressive" das Bild des jugendlichen Heißsporns steht. Der rennt beispielsweise los, um Tiere aus Käfigen zu befreien, in denen sie die Qualen medizinischer Experimente erwarten. Die "Propaganda der Tat", wie Anarchisten es nennen, spricht für sich, man kann die Empörung über die Leiden der gemarterten Kreatur schrankenlos nachvollziehen. Aber wo ist – das menschliche Leben gegengerechnet, das von den medizinischen Forschungen ja profitiert – der tiefere Gedanke dazu? Bei Henning Ritter, dem Konservativen:

    "Die Verächtlichkeit der Tierversuche springt ins Auge, wenn man bemerkt, dass sie gerade auf der Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch beruhen und durch diese Nähe gerechtfertigt werden. Man experimentiert vorzugsweise mit Tieren, die dem Menschen am nächsten kommen, und erlaubt sich dies, weil sie vom Menschen verschieden sein sollen."

    Keine Handlungsanweisung, kein moralischer Vorwurf – nur eine sechszeilige Irritation, die freilich nachhaltiger wirkt als jedes Transparent in einer Demonstration. Dass Ritter sich auch darüber Gedanken macht, hängt mit einem der wahrnehmbaren, locker geknüpften Stränge des Buches zusammen, dem Topos "Mitleid", dem viele Notizen gewidmet sind. Nicht zufällig, denn Henning Ritter hat dazu schon einmal ein hochgelobtes Buch geschrieben, und die "Notizhefte" versammeln weitere Glossen dazu.

    Im Rahmen des vorliegenden Werks wirken sie allerdings überproportioniert, was auch für die etwas aufdringliche Präsenz Friedrich Nietzsches, Montaignes und des Apostels Paulus gilt, alle drei nicht eben vernachlässigte Größen der abendländischen Geistesgeschichte. Ja, das Buch hat Längen! Aber es appelliert gar nicht an seine Leser, jede Passage mit gleicher Hingabe im Geiste zu wägen. Es ist, um es mit drei Zusatzlettern zu versehen, Splitteratur, in deren einzelnen Scherben sich manchmal funkelnd das Sonnenlicht bricht, manchmal eben auch nicht. Dafür können die Scherben verletzen, zumindest den Firnis anritzen, der das Bild der Welt im Lauf der Zeit verdunkelt:

    "Bis zur Formulierung der Menschenrechte waren alle politischen Prinzipien regional. Wenn man sie praktizierte, konnte man dies immer in dem Bewusstsein tun, dass danach oder dahinter noch etwas Allgemeineres kommen könne. Jede Behauptung der Letztgültigkeit musste sich darauf einrichten. Heute muss sich den Menschen des Westens das Gefühl aufdrängen, dass sie, wenn sie das Ethos der Menschheit verspielen und verderben, jenseits seiner auf nichts Neues mehr hoffen können. Eine uns noch bevorstehende Erfahrung ist, dass jenseits der Menschenrechte nichts mehr kommt. Verlieren diese an Evidenz, so steht die Menschheit mit leeren Händen da."

    Man könnte auch hier den Autor wieder sich selbst kommentieren lassen, indem man mit dem Lesebändchen eine Brücke zu Seite 353 schlägt. Da steht dann der einfache Satz:

    "Auch das Evidente will gesagt sein."

    So kurz er ausfällt, so heimtückisch ist er. Denn das Evidenzempfinden Henning Ritters überschneidet sich eben nicht mit dem common sense, den zustimmungsfähigen Mantras der intellektuellen Tonangeber (oder auch nur Angeber) in Feuilleton und akademischem Betrieb. Hinter deren Evidenzen entdeckt Ritter allzu häufig ideologische Fesseln, die den Blick aufs Phänomen verstellen – das Phänomen Geschichte etwa. Evident sei doch für jeden, der genau hinschaut, sagt Ritter, dass die deutsche Nachkriegsgesellschaft eine geradezu exemplarische Wandlung durchmachte:

    "Abbitte an die Bundesrepublik: Da ist einmal aus der Geschichte zu lernen, und niemand tut es. Die Rede ist von der Aufführung der Bundesrepublik in der Nachkriegsperiode. Warum mag heute niemand dieses bis zur Selbstkasteiung gehende Wohlverhalten, das immer nur den Eindruck in den Augen der anderen suchte, nachahmen? Denn es hatte ja außerordentlich vorteilhafte Folgen. Nicht Georgien, nicht die Ukraine, Serbien oder Polen würden ein solches Betragen für zumutbar halten, obwohl der Verzicht auf alle auftrumpfenden Gesten, auf alles Anspruchsdenken sich am Beispiel der Bundesrepublik als von unzweifelhaftem Nutzen erwiesen hat. Kleine Brötchen backen – das kann der Weg zu Einfluss und sogar Macht sein, wie man an diesem Beispiel sehen kann. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist eine echte Entdeckung auf dem Gebiet der Politik: Fügsamkeit kann zu Überlegenheit führen. Die Geringschätzung, die dieser deutsche Staat sich über Jahrzehnte bei vielen seiner Bürger einhandelte, wäre heute Grund genug für die fällige Abbitte an die Bundesrepublik, der keine Sympathien ihrer Intellektuellen gehörten."

    Die "Notizhefte" von Henning Ritter, niedergeschrieben in den 19 Jahren zwischen 1990 und 2009, sind keine Tagebücher. Man könnte sie, wenn man um ihre Datierung nicht wüsste, auch 20, ja 50 Jahre früher ansiedeln, denn Ritters Bezugspunkte liegen in der Regel weit vor seiner Geburt. Wie entfernt scheint dieses Buch von den doppelt so umfangreichen, aber nur ein Hundertstel so bedeutenden Aufzeichnungen eines Fritz J. Raddatz, die ebenfalls in diesem Herbst erschienen! Parallelitäten lassen sich nicht von der Hand weisen: zwei wichtige Redakteure bedeutender Zeitungen, mithin Angehörige derselben Kaste, in etwa der gleiche Aufzeichnungszeitraum – und doch ein Unterschied, als läge der Untergang des Abendlands dazwischen. Während sich Raddatz mit seinem auf ihn zentrierten Sudelklatsch zur Spitze der Ich-Gesellschaft vorkämpft, muss man bei Ritter Persönliches mit der Lupe suchen.

    "Titel für Memoiren: Gerade noch einmal normal geblieben.", heißt es an einer Stelle.

    "Fragebogen: Was möchten Sie sein? – Eine Leerzeile in einem Gedicht Hölderlins", an einer anderen.

    Nun gibt es durchaus den Punkt, an dem die demütige Selbstzurücknahme zur Sonderform der Eitelkeit wird, aber dafür sind die Beteuerungen der eigenen Unwichtigkeit zu rar – eben zu uneitel – gestreut. So bescheiden Henning Ritter auch auftritt, zur Eitelkeit an sich hat er ein durchaus positives Verhältnis. Aber er meint eine andere Form als die äußerliche Aufgeblasenheit des Kulturbetriebs:

    "Statt dem guten Schreiben im Weg zu stehen, sind Eitelkeit und Selbstgefälligkeit geradezu eine Bedingung dafür. Denn der Eitle geht nicht hastig zu Werk, sondern nimmt sich Zeit und sucht jeder Formulierung Glanz zu geben. Eitelkeit gibt dem Geschriebenen den Raum, den es braucht, um sich am glücklichsten zu entfalten. Das hat Adorno gesehen: Denn was sie am Werk als Spur von Eitelkeit lesen, ist das untilgbare Mal der Anstrengung zu seiner Vollkommenheit."

    Das stimmt nur bei einer vom Aussterben bedrohten Sonderform der Eitelkeit, bei der sich das Ringen um öffentliche Anerkennung ausschließlich via Werk vollzieht. Dann bedeutet jeder Webfehler im Text eine persönliche Niederlage, eine Schmach, die es zu vermeiden gilt.

    In Zeiten der Talkshow-Prominenz wird dagegen die eigene Haut zu Markte getragen, das Werk verblasst im Hintergrund. Jede Minute, die man dem Makeup widmet, zahlt sich mehr aus als jede Stunde, die man am Schreibtisch um Formulierungen ringt. In diesem Sinne stünde Henning Ritter, nähme er den rehabilitierten Eitelkeitsbegriff für sich in Anspruch, damit ziemlich allein auf weiter Flur. Der Autorentypus, mit dem er sich selbst verglichen sehen will, gehört längst der Vergangenheit an:

    "Samuel Beckett, der in einer mit großem Aufwand vorbereiteten Diskussion, die überdies im Fernsehen übertragen wurde, vollkommen ruhig dasaß und alle Interpretationen und Fragen von sich abgleiten ließ, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, wird als Einziger meinem Idealbild des Schriftstellers gerecht: Als der, der zu keiner Antwort und Auskunft verpflichtet ist."

    Stellen wir also keine Fragen, sondern nehmen Henning Ritters tastende Antworten zur Kenntnis, seine leider unrealisierbaren Vorschläge.

    "Was helfen würde: Änderungen ohne Reformen."

    … beruhigen ihn, dass er nicht allein auf der Welt ist, sondern potenziell unendlich viele Zuhörer hat ...

    "Die Voraussetzung für geistige Beschäftigung ist, dass das, was mich interessiert, wenigstens einen anderen auch interessiert."

    ... und freuen uns darüber, wie anregend, belehrend, verborgene Schätze ausgrabend "Bellesophistik" sein kann, die einerseits anachronistisch wirkt, andererseits aber niemals die Gegenwart als Ziel ihrer Denkanstöße aus den Augen verliert. Und ob kokett oder nicht – das mag jeder für sich entscheiden –, der Autor selbst hält sich nicht für übermäßig talentiert. Die Trauben hingen zu hoch:

    "Als größte Begabung erscheint mir mit den Jahren die definitorische. Früh wird sie unterschätzt, weil man auf das aus ist, was an den Dingen undefinierbar ist. Später sieht man, dass das Definierbare weit schwerer zu fassen ist. Der Rang eines Denkens zeigt sich daran, dass es wie unabsichtlich zu Definitionen drängt. Die Gabe der Definition ist eine seltene, auch in den Disziplinen, die nur auf Definitionen beruhen wie die Jurisprudenz. Die klappern denn auch oft genug. Selten gelingt der Vorstoß ins Reich des noch nicht Definierten, am seltensten der ins Undefinierbare."

    Es ist die reine Chuzpe des Buchbeschauers, mit einer Definition zu enden: Bücher sind geistige Maschinen zur Veränderung des Menschen; diese hier benötigt als Treibstoff nur Neugier und ein bisschen Geduld der Leser. Die Definition übrigens stammt von Ernst Jünger, dem Henning Ritter – bei aller Liebe! – einen seiner spitzen Pfeile hinterherschickt:

    "Das Spießige an Ernst Jünger tritt in einer kleinen Notiz seines Pariser Tagebuchs am 23. Februar 1943 hervor: "Während der Mittagspause lege ich jetzt immer ein Augenfrühstück ein." Er blättert in einem Band Turner, bei gleichzeitigem Bewusstsein, eine große Katastrophe zu erleben. Er legt sozusagen ein Deckchen unter, damit es nicht scheppert."

    Henning Ritter: "Notizhefte", Berlin Verlag, 426 Seiten, 32,- Euro