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Bedrohtes Weltkulturerbe
"Sanaa schmilzt buchstäblich weg"

In Jemens Hauptstadt Sanaa bedrohen Überschwemmungen ein einmaliges Ensemble tausender Häuser, das die UNESCO zum Weltkulturerbe zählt. Sie wurden vor Jahrhunderten aus gestampftem Lehm gebaut. Erst zerstörte der Bürgerkrieg etliche von ihnen, jetzt lösen sich hunderte Häuser im Regen auf.

Von Jürgen Stryjak | 26.09.2020
Wassermassen vor einem Gebäude in der zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Altstadt von Jemens Hauptstadt Sanaa
Überschwemmungen bedrohen die Gebäude in der zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Altstadt von Jemens Hauptstadt Sanaa (AFP/ Mohammed Huwais)
In der Altstadt von Sanaa baden Kinder im Wasser, sie haben Spaß dabei. Aber die Wassermassen, die sich hier ihren Weg durch die jemenitische Hauptstadt suchen, sind eine Gefahr für einzigartige historische Bauwerke. Die UNESCO zählt Teile der Altstadt zum Weltkulturerbe. Der greise Ali al-Ward besitzt eines der bedrohten Häuser:
"Der Regen hat bei etlichen Gebäuden die Dächer zerstört, andere sind einsturzgefährdet. Wir haben versucht, dafür zu sorgen, dass das Wasser abfließt – aber ohne Erfolg. Inzwischen haben wir Angst davor, in unseren Häusern zu schlafen."
Häuser sacken zusammen wie Sandburgen
Die Altstadt von Sanaa ist ein Ort wie es keinen zweiten auf der Welt gibt. Die pastellbraunen oder rötlich schimmernden Wohntürme sind mit weißen Fensterbögen und Ornamenten verziert. Sie sehen aus wie antike Hochhäuser, manche von ihnen besitzen acht Stockwerke. Besonders in der Abendsonne leuchten sie wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Mehr als 6000 dieser Häuser soll es in Sanaa geben. Viele von ihnen wurden vor eintausend Jahren aus gestampftem Lehm erbaut. Wenn ‒ so wie jetzt ‒ das Wasser von oben und von unten kommt, sacken sie in sich zusammen wie Sandburgen am Strand, wenn eine Welle sie wegspült. Mehrere Dutzend dieser Häuser sind bereits teilweise oder komplett eingestürzt. Hunderten droht dasselbe Schicksal.
"Sanaa zerfällt, es schmilzt buchstäblich weg. Viele Dächer wurden bereits bei Luftangriffen zerstört. Die Explosionen der Bomben haben Risse in den Fundamenten der Häuser verursacht. Und jetzt auch noch der Regen, der alles nur noch schlimmer macht", sagt Doaa al-Wassiei von der Organisation für die Erhaltung der historischen Städte des Jemen.
Jemen - Stimmen aus dem vergessenen Krieg
Über den Krieg im Jemen gibt es wenige Berichte. Die jemenitische Autorin und Journalistin Bushra al-Maktari ist inkognito durchs Land gereist und hat unter Lebensgefahr mit ihren Landsleuten gesprochen.
Überschwemmungen nehmen zu
Die Hauptstadt Sanaa befindet sich in gut 2000 Metern Höhe in einem Talkessel. Von Juli bis September regnet es fast immer viel, Überschwemmungen sind keine Seltenheit, aber der Regen wird ‒ vermutlich aufgrund des Klimawandels ‒ von Jahr zu Jahr stärker. Seit Juli sollen bei Überschwemmungen landesweit mindestens 170 Menschen ums Leben gekommen sein. Mohammed Mahdi, ein Berater des jemenitischen Kulturministeriums:
"Früher hatten wir auch Katastrophen, aber es gab einen Staat, der handelte. Heute hingegen versucht die UNESCO einen Plan umzusetzen, mit dem die zerstörten Häuser wieder aufgebaut werden könnten – aber das Geld dafür landet am Ende in den Taschen der Huthi-Milizen."
Sanaa: Ein Kind blickt auf einen überschwemmten Vergnügungspark. 
Schwere Regenfälle und Überschwemmungen setzen auch den Menschen im Jemen zu (XinHua/Mohammed Mohammed)
Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen
Die so genannten Huthi-Aufständischen haben vor sechs Jahren die international anerkannte Regierung des Jemen aus der Hauptstadt Sanaa vertrieben. Seit März 2015 werden die Huthis von einer Militärkoalition unter Führung Saudi-Arabiens aus der Luft angegriffen. Kampfjets bombardierten dabei immer wieder auch Häuser in der Altstadt von Sanaa. Der Krieg hat das Land noch weiter ins Elend getrieben. 24 Millionen Menschen, also 80 Prozent der Bevölkerung, sind zum Überleben auf Nothilfe angewiesen. Aber die gelangt nur unter großen Schwierigkeiten ins Land.
Derzeit geht es vor allem darum, Menschenleben zu retten. Doaa al-Wassiei von der Organisation für die Erhaltung der historischen Städte befürchtet deshalb, dass die Altstadt von Sanaa bald unwiederbringlich verloren ist: "Das Geld ist natürlich knapp wegen des Krieges. Aber es geht doch um unsere Identität. So, wie wir unser Land verteidigen, sollten wir auch unsere Identität verteidigen."