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Bedürftiges Berlin

Es weht ein rauer Wind in den Straßen von Berlin. Wedding, Kreuzberg und Tiergarten, das sind laut aktuellstem Sozialstrukturatlas die größten Problemzonen der Stadt. Hohe Arbeitslosigkeit, überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger, ein hoher Ausländeranteil machen sie zu sozialen Brennpunkten. Dort versammelt sind auch die meisten der über eine halbe Million Berliner, die unterhalb der Armutsgrenze leben, unter ihnen besonders viele Familien mit Kindern.

Von Ralf Schweikart | 10.07.2004
    Was sich in den Statistiken und Tabellen als lebloses Zahlenmaterial findet, hat Gregor Tessnow in seinem Jugendroman Knallhart mit Leben gefüllt. Sein Held Michael verliert von einem auf den anderen Tag seine drei Zimmer mit eigenem Bad in der großzügigen Zehlendorfer Villa, den vernetzten Computer und den Videoprojektor. Der neureiche Freund seiner Mutter hat sie beide vor die Tür gesetzt. "An meinem fünfzehnten Geburtstag wurde ich aus dem Paradies vertrieben" lautet deshalb die resignative Erkenntnis zu Anfang, denn von nun an wird das Leben für Michael zur Hölle. Sein neues Zuhause liegt in Neukölln; eine winzige Wohnung, Tür an Tür mit Secondhand-Läden, Pfandleihern und Dönerbuden. Und er landet in einer Realschulklasse, in der er sofort als der Absteiger aus dem Bonzenviertel gebrandmarkt wird. Bei dem es dennoch was zu holen geben muss.

    Mit beängstigender Geradlinigkeit schildert Gregor Tessnow, wie sich Michael vom ersten Schultag an immer mehr in Abhängigkeiten verheddert. Ein paar Jungs um ihren Anführer mit Namen Errol erwarten ihn draußen auf dem Schulhof. Keinen Ärger gegen entsprechende Bezahlung heißt es. Erst die teuren Sneakers, dann ein Handy, schließlich Bargeld, eine Forderung folgt der nächsten. Michael ist ratlos.

    Seine neuen Freunde Crille und Matze sind ihm keine Hilfe. Die haben genug zu tun mit ihrem saufenden Vater und dem Heini vom Jugendamt. Den einzigen Ausweg bietet wie aus heiterem Himmel ein Typ, dem er einmal ein gestohlenes Handy verkauft hat: Hamal. Der macht ihm ein überzeugendes Angebot: Schutz vor Errol und dessen Jungs gegen Gefälligkeiten. Als Kurier für Hamal und seine Freunde verteilt Michael ein paar Gramm Haschisch an Geschäftskunden in Cafés. Dann mehr. Und gerät dabei unentrinnbar zwischen den schwelenden Konflikt der beiden Gruppen.

    Bis Michael frierend im Lichtkegel eines Autoscheinwerfers steht, vor ihm liegt gefesselt sein Peiniger Errol. Vom ersten Tag an hat der ihm klar gemacht, was passiert, wenn Michael nicht spurt. Jetzt sind die Rollen vertauscht. Einer von Hamals Begleitern drückt ihm einen Revolver in die Hand. ""Du oder er", sagt Hamal." Eine ausweglose Situation, die Gregor Tessnow bis zum Letzten auserzählt. Es gibt an dieser Stelle keinen rettenden Einfall, keine auftauchende Vertrauenslehrerin, keine Stimme aus einem Polizeimegafon. Sondern nur den einen tödlichen Schuss. Es ist eine traurige Wahrheit, dass auf einer Waldlichtung mit dem Revolver in der Hand für einen 15jährigen Jungen auch das Unvorstellbare möglich werden kann, wenn das schöne Leben plötzlich einer traurigen Realität von alltäglicher Bedrohung und Gewalt weichen muss.

    Vielleicht kennt Gregor Tessnow ein bisschen mehr von diesem traurigen Leben als andere Autoren. Eine Berlin verbundene Biografie, zu der ein Rauswurf aus der Schule, ein abgebrochenes Ingenieursstudium und ein paar Jahre Taxifahren gehören, verbinden ihn mit seiner Stadt und den Menschen dort. Darum womöglich das Thema, das Protokoll eines sozialen Abstiegs hinein ins soziale Sperrfeuer einer Schulklasse ohne Perspektive, von jungen Männern, deren Träume an der nächsten Straßenecke enden.

    Gregor Tessnows Erzählton klingt jedenfalls ungekünstelt, die Dialoge hart und ruppig und nah dran an den schmuddeligen Kneipen Neuköllns. Das Buch riecht förmlich nach diesem Stadtviertel, nach abgestandenem Bier aus Aldi-Paletten, nach kaltem Rauch und überquellenden Abfalltonnen. In dieser atmosphärischen Geschlossenheit liegt auch eine der großen Stärken des Romans und trägt über manche inhaltliche Nachlässigkeit.

    Wer bei "Knallhart" von Gregor Tessnow den ein oder anderen Tonfall aus Zoran Drvenkars Romanen zu hören glaubt, der liegt nicht ganz falsch. Seit langem eng miteinander befreundet ist Zoran Drvenkar Mentor und Korrektiv zugleich. Er hat auch ein vor allem aus Verlagsgründen motiviertes Vorwort beigesteuert. Doch mit seinem Namen und den naheliegenden Vergleichen mit seinen eigenen Berlinromanen lenkt er nur ab von einer äußerst lesenswerten und schonungslosen Chronik einer sozialen Karriere abwärts. Es weht eben ein rauer Wind. Auf den Straßen und manchmal auch den Seiten von Romanen.

    Gregor Tessnow
    Knallhart
    Ueberreuter, 156 S., EUR 9,90