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Befehle und Initiativen stützten sich auf vorhandene Zustimmung

Die Massenmorde des NS-Regimes waren nicht nur das Werk dummer Mitläufer, sondern auch gut ausgebildeter Akademiker. Der französische Historiker Christian Ingrao stellt in seinem Buch "Hitlers Elite" 80 Vertreter dieser Intellektuellen vor, die in der SS-Karriere machten.

Von Martin Hubert | 23.07.2012
    Wie können intelligente und humanistisch gebildete Akademiker zu nationalsozialistischen Massenmördern werden? Der Pariser Historiker Christian Ingrao beansprucht, dieser oft gestellten Frage in seinem Buch über die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords auf neue Weise nachzugehen, wenn er schreibt:

    Mein Ausgangspunkt besteht darin, den Nationalsozialismus als ein Glaubenssystem zu begreifen, das sich in der Sprache und in einer bestimmten Praxis ausgedrückt hat. Natürlich hatte auch die Politik mit ihren Impulsen und Entscheidungen an diesem System Anteil, aber ausschlaggebend waren Emotionen, die von soziologisch und politikwissenschaftlich orientierten Studien mit Vorliebe ignoriert wurden. Inbrunst und Angst, Selbstmord und Gewalt, Utopien, Verzweiflung und Hass haben sich mit diesen Instrumenten nicht erfassen lassen.

    Ingrao möchte also die Gefühle, Erfahrungen und Sehnsüchte kenntlich machen, die die nationalsozialistische Ideologie auch für hochgebildete Menschen attraktiv machte. Er verfolgt daher die Lebensläufe von 80 Akademikern, die vor allem im Sicherheitsdienst der SS-Karriere gemacht hatten, von Ökonomen, Juristen, Sprachwissenschaftlern, Philosophen, Historikern und Geografen. Dafür hat er Archive durchstöbert, Akten, Tagebücher, Publikationen und biografische Notizen seiner Protagonisten ausgewertet. Die Wurzeln für deren Entwicklung findet Ingrao in ihrer Kindheit während des Ersten Weltkriegs:

    Zwar waren sie von wenigen Einzelfällen abgesehen weder Kämpfer noch Arbeiter, aber sie erlebten den Krieg als Zuschauer und Leidtragende innerhalb eines Familiengefüges, das durch den Weggang der Männer zutiefst erschüttert worden war. Nimmt man die Reaktion auf die Nachricht von der Verwundung eines Familienmitglieds oder das Warten auf Lebenszeichen von Vermissten hinzu - Erfahrungen; die Gefühle von Verlust und Trauer evozierten -, spricht vieles für eine massenhafte Traumatisierung im Gefolge des Ersten Weltkriegs.

    Nach Ingrao war neben der unmittelbar erlebten Angst und Trauer für diese Kinder die Überzeugung prägend, einen opferreichen Verteidigungskrieg gegen Feinde erlebt zu haben, die das deutsche Volk umzingelt hatten und seinen endgültigen Niedergang wollten. Während der Zeit der Weimarer Republik wurden diese Endzeitängste und Deutungsmuster noch durch die Propaganda gegen den Versailler Vertrag, die Reparationszahlungen Deutschlands an die Siegermächte oder gegen die französische Besetzung des Rheinlands verstärkt. Ingrao zeichnet Schritt für Schritt nach, wie sich das anfangs noch diffuse Denken der 80 Akademiker während ihres Studiums immer stärker zuspitzte. Vor allem die Mitgliedschaft in rechten studentischen Verbindungen und Netzwerken sorgte dafür, dass sie ein festes nationalsozialistisches Glaubenssystem entwickelten. Es deutete die traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit positiv um.

    Das System der nationalsozialistischen Überzeugungen lieferte den Männern einen Interpretationsrahmen, die aus Angst vor dem Verschwinden des Volkes große Bereitschaft zur Militanz zeigen. Denn die "Leitidee" in der Geschichte konnte nur die Überlegenheit der nordischen Rasse sein. Nimmt die Rede vom "Tausendjährigen Reich", die man allzu oft als Phrase abgetan hat, nicht Gestalt an in der gewaltigen Erwartung, dass eine revolutionäre Bewegung kommen werde, die Rettung bringt?

    Der Glaube an die nationalsozialistische Ideologie verwandelte nach Ingrao Angst in Zuversicht, Ohnmacht in Stärke, das Gefühl der erlittenen Niederlage in die Vision eines sinnhaften und siegreichen Kampfes um den Erhalt der nordischen Rasse. Mit ihm im Rücken legitimierten die inzwischen im Reichssicherheitshauptamt der SS und seinen Untergliederungen angekommen Akademiker in zahlreichen Schriften das nationalsozialistische Weltbild. Sie kontrollierten und überwachten das Leben der nationalsozialistischen Gesellschaft vor allem im Hinblick auf ihre Feinde. Sie entwarfen Pläne für die Umsiedlung und Vernichtung der slawischen und jüdischen Völker im Osten Europas. Und sie nahmen schließlich selbst Teil an der millionenfachen Ermordung von Juden, Kommunisten oder Partisanen, die zwischen 1941 und 1945 in Polen und Russland stattfand. Spätestens hier drängt sich bei der Lektüre des Buches die Frage auf: Wo bleibt der Zusammenhang zu den frühen Traumatisierungen dieser Personen im Ersten Weltkrieg? Wie weit reicht dieser Erklärungsansatz, schließlich wird nicht jeder Traumatisierte zum Massenmörder? Ingrao argumentiert, dass die Akademiker immer wieder auf ihre alten Deutungsmuster Bezug nahmen, um ihr mörderisches Handeln zu rechtfertigen: als einen notwendigen Kampf gegen einen zerstörerischen Feind.

    Der jetzige Diskurs wich jedoch grundlegend von dem ihrer Studentenzeit ab. Er war zwar ebenfalls wesentlich geprägt von Verteidigung und Kampf, zeigte aber 1939 keine Spur mehr von der eschatologischen Angst am Ende des Ersten Weltkriegs: Die "Welt von Feinden" war zwar immer noch gefährlich, drohte aber Deutschland nicht mehr zu vernichten, weil Deutschland im Nationalsozialismus die Rettung gefunden hatte. Der Nationalsozialismus hatte die Eschatologie kanalisiert.

    Genauso faktenreich wie den Aufstieg der verängstigten Kinder zu mörderischen Nationalsozialisten schildert der Historiker dann auch die Etappen ihres Abstiegs: die Niederlage im Zweiten Weltkrieg, die mit einer teilweise unglaublichen Realitätsverleugnung beantwortet wurde. Und die Versuche der SS-Elite, sich in den Strafverfahren, die von den Alliierten nach 1945 gegen sie durchgeführt wurden, zu verteidigen. Insgesamt überzeugt Christian Ingraos Ansatz, die nationalsozialistische Bindung der SS-Elite nicht allein als Produkt offizieller Propaganda zu sehen, sondern auch als Resultat kindlicher Erfahrungen. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Er erlaubt es, die individuellen Karrieren der einzelnen Intellektuellen auf ein gemeinsames Generationsmuster zu beziehen. Und er macht klar, dass die SS-Intellektuellen keineswegs bloß Technokraten der Herrschaft waren.

    Auch wenn Gewalt auf Befehl erfolgte und Völkermord mit technischen Argumenten begründet wurde, so konnten sich diese "Befehle und Initiativen" doch auf bereits vorhandene Zustimmung stützen.

    Allerdings beschreibt Christian Ingraos Studie keineswegs die gesamte nationalsozialistische Elite, sondern eben nur eine ausgewählte Schar von 80 SS-Intellektuellen. Außerdem fehlt in Ingraos Buch ein Vergleichsmaßstab für das angewendete Deutungsmuster der traumabedingten Ideologisierung. Etwa der Vergleich mit Intellektuellen, die unter den gleichen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der gleichen Propaganda in der Weimarer Republik aufgewachsen waren, aber dem nationalsozialistischen Einfluss widerstanden hatten. Ein solcher Vergleich hätte wohl noch genauer beschreiben können, wann aus einem traumatisierten Ersten-Weltkriegskind ein gläubiger Nationalsozialist werden kann. Auch Christian Ingraos Studie ist daher noch nicht das letzte Wort zur Psychologie des intellektuellen Nationalsozialisten. Lesenswert ist sie dennoch. Denn die dargestellten Lebensläufe enthüllen, dass die Akademiker der SS zwar elaborierter dachten und sprachen als gewöhnliche Nazis, aber von den gleichen Feindbildern und Fantasien besessen waren.

    Christian Ingrao:
    Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen
    Massenmords, "Propyläen Verlag", 576 Seiten, 24,99 Euro

    ISBN: 978-3-549-07420-6