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Begründer der modernen Ikonologie

Die Kunstgeschichte muss sich von allen anderen Wissenschaften abgrenzen!

Von Anette Schneider | 26.10.2004
    Der führende Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin hatte um 1900 sehr konkrete Vorstellungen von seinem Fach.

    Sie interessiert sich ausschließlich für Stilfragen und Fragen künstlerischer Zuordnung!
    Und: Kunst muss nachempfunden werden!


    Der junge Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg hält zur selben Zeit dagegen.

    Die sentimentale Männerbrust, die sich gegen objektives Leid empfindungslos macht, um sie für den angeblich "reinen Kunstgenuss" frei zuhalten.

    Aby Warburg wird 1866 als ältester Sohn einer alteingesessenen jüdischen Bankiersfamilie in Hamburg geboren. Als Gymnasiast tritt er das Recht auf die Übernahme der väterlichen Bank seinem Bruder Moritz ab. Unter einer Bedingung:

    Dafür musst Du mir jedes Buch kaufen, das ich brauche.

    Während Moritz Warburg das Bankhaus ab 1910 so erfolgreich führt, dass er schon bald persönlich mit Kaiser Wilhelm und der Reichsspitze in Berlin verkehrt, lebt und arbeitet Aby Warburg als finanziell unabhängiger Privatgelehrter in Hamburg. Studiert hatte er Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in München, Straßburg und Florenz. Bereits die Dissertation über Botticelli und dessen Bezug zur Antike verdeutlicht seinen Blick auf Kunst.

    Im Dämmerlichte jener liebenswürdigen Schwermut verständnisinnig zu verweilen, gehört heute zum guten Ton der kunstfreundlichen Welt; wer jedoch nicht nur sich selbst in Sandros Temperament gefallen, ihn vielmehr als Künstler psychologisch verstehen will, der muss ihm auch in das helle Tageslicht seiner Tätigkeit als Schilderer leidenschaftlich bewegten körperlichen und geistigen Lebens und auf den verschlungenen Pfaden folgen, die er als williger Illustrator der gebildeten florentinischen Gesellschaft so häufig zu wandeln hatte.

    Warburg fordert damit Ungeheuerliches: Wer Kunst erforsche, dürfe die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die wirtschaftlichen und privaten Interessen des Auftraggebers nicht ignorieren, denn ohne sie könne man ein Kunstwerk nicht verstehen.

    Botticelli benutzt die Antike wie eines älteren erfahrenen Kollegen Studienmappe, aus der ihn dieses oder jenes Blatt anregt, ohne deshalb die Gewissenhaftigkeit des eigenen Naturstudiums zu verringern oder die Formensprache im einzelnen manieristisch zu beeinflussen.

    Der junge Kulturwissenschaftler sucht nach Gründen, weshalb Künstler der Renaissance nach Jahrhunderten allmächtiger und körperfeindlicher Kirchenkunst plötzlich wieder die bewegten Gesten der Antike aufgreifen.

    Der neue große Stil, den uns das künstlerische Genie Italiens beschert hat, wurzelt in dem sozialen Willen zur Entschälung griechischer Humanität aus mittelalterlicher "Praktik". Mit diesem Willen zur Restitution der Antike begann "der gute Europäer" seinen Kampf um Aufklärung.

    Diesen Kampf setzt Aby Warburg auf seine Weise fort: Mit der Erforschung immer wiederkehrender Bildmotive und Zeichen begründet er die moderne Ikonologie - die Wissenschaft von der Zeichensprache der Bilder; einer Wissenschaft, die Kunst als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse versteht. Dieser interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich auch in seiner berühmten Bibliothek, die er Dank der Abmachung mit seinem Bruder aufbauen konnte: In ihr versammelt Warburg alte und neue Bücher aus allen wissenschaftlichen Bereichen, zigtausende Kunst-Abbildungen sowie Dokumente der Alltagskultur.

    Eine Urkundensammlung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde.

    ... Und mittendrin die Größen der Weimarer Republik: Der Philosoph Ernst Cassirer, der Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der Altphilologe Karl Reinhardt und viele mehr. Schon bald wird die Bibliothek Grundlage für ein fächerübergreifend arbeitendes Forschungsinstitut. Warburgs letztes und unvollendet gebliebenes Projekt ist der 'Bilderatlas', in dem er die alten, immer wieder verwendeten Bildmotive in Kapiteln zusammenfasst, um deren Veränderungen zu verdeutlichen.

    So lässt sich der Bilderatlas lesen als ein Lehrbuch zur Entwicklung der Rationalität, als ein Buch der Fortschrittsstadien, die der menschliche Geist nach den Lehren der Philosophen durchwandert hat.

    Als Aby Warburg am 26. Oktober 1929, im Alter von 63 Jahren in Hamburg stirbt, sind sein Institut und seine junge, fortschrittlich-aufklärerische Forschung bereits in Gefahr. Noch im Dezember des selben Jahres schaffen Institutsmitarbeiter die Bibliothek nach London, wo sie noch heute ihren Sitz hat. Für viele deutsche Kunsthistoriker weit genug weg, um bis heute an einer elitär-autonomen Kunstgeschichte festzuhalten.